Geschichte

Parforceritt durch die Weltgeschichte

von Romy Hoffmann · 5. März 2012

Zwei Herren im fortgeschrittenen Alter reden von früher. Das klingt langweilig, ist aber hochspannend und zeitweise ausgesprochen witzig – zumindest wenn es sich um Egon Bahr und Peter Ensikat handelt. Am Donnerstagabend trafen sie im Willy-Brandt-Haus aufeinander.

„Am Anfang fremdelten wir. Ich fragte mich, ob ich auch was erzählen soll oder nur die Fragen stelle.“ So beschreibt Peter Ensikat seine Eindrücke vom ersten Treffen mit Egon Bahr. Der Filmemach Thomas Grimm hatte sie für seine „Zeitzeugen“-Reihe zusammengebracht – der eine aus Ost- der andere aus West-Deutschland, der eine Kabarettist,  der andere Politiker, der eine 70, der andere bald 90.

Es muss teils launig, teils heiter zugegangen sein bei diesen Gesprächen, die vor wenigen Wochen in Buchform erschienen sind. „Gedächtnislücken“ lautet der Titel, es mag eine Anspielung auf das Alter der Gesprächspartner oder ihre mitunter unterschiedliche Weltsicht sein. Heiter und launig zumindest geht es im Willy-Brandt-Haus zu, das aus allen Nähten platzt, um den beiden Herren und ihren Erinnerungen zu lauschen.

Der Überblick über die jüngere deutsche Geschichte, angefangen bei der Nachkriegszeit bis hin zum Mauerfall, das Verhältnis zwischen der ehemaligen DDR und der BRD wahrgenommen durch zwei Bürger – das ist sowohl Thema des Buches, als auch der Diskussion.

Brandts Entspannungspolitik

Egon Bahr erinnert sich gut an die Zeit als er engster Berater des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt und Bundesminister war. „Der Osten war eine Herausforderung für uns.“ Deswegen habe er die Ostpolitik Brandts als Wendepunkt in der Nachkriegszeit wahrgenommen. Bahr als „Architekt der Entspannungspolitik“, wie ihn Moderatorin Franziska Augstein nennt, verfolgte mit der neuen Ostpolitik Anfang der 1970er Jahre das Ziel, Verhältnis zwischen Ost und West zu entspannen. Nach dem Mauerbau 1961 habe man dagegen die Meinung vertreten, dass die Mauer nur durch einen Krieg beseitigt werden könne, erinnert sich Bahr.

Damals habe im Westen sowieso niemand an eine Wiedervereinigung geglaubt, meint er. „Im Osten übrigens auch nicht“, wirft Peter Ensikat ein. Weder Adenauer in der Bundesrepublik noch Ulbricht in der DDR hätten die Wiedervereinigung gewollt. In der Zeit des Kalten Kriegs sei die Stärkung des eigenen ideologischen Lagers wichtiger gewesen als das Streben nach einem gemeinsamen deutschen Staat. Hier habe Walter Ulbricht eine wichtige Rolle gespielt. Diese „Alphafigur“, wie Bahr ihn bezeichnet, habe einen dauerhaften Status quo in Berlin und Europa angestrebt, da aus seiner Sicht nur so die Kriegsgefahr eingedämmt werden konnte. Umso wichtiger habe für die DDR-Bürger die Politik der kleinen Schritte des Kabinetts Brandt gewirkt. „Das war das erste Mal, dass die DDR das Gefühl hatte, von der BRD ernst genommen zu werden“, erinnert sich Ensikat im Willy-Brandt-Haus.

Beziehungen zwischen Ost und West verbesserten sich

Peter Ensikat, der als Kabarettist in der DDR bekannt wurde, zielte mit seiner Satire darauf ab, die Situation der Menschen in der DDR zu erleichtern. „Es sollte ein Ventil für die Bürger sein.“ Und auch wenn das Kabarett in der Bundesrepublik einen größeren Erfolg verbucht habe, „bei uns erlangten wir die größere Wirkung“, stellt Ensikat mit schelmischem Unterton klar.

Nach anfänglichem Argwohn verbesserte sich das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten im Laufe der Jahre zusehends. Da sind sich die Protagonisten des Abends einig. Egon Bahr entsinnt sich beispielsweise, dass die Bundesregierung Erich Honecker als einen gleichwertigen Gesprächspartner in Bonn betrachtet habe. Außerdem habe man – im Osten wie auch im Westen – Achtung vor Honeckers Vergangenheit gehabt, insbesondere vor seinem Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

Auch die Bedeutung der linken Bewegung in der Bundesrepublik von 1968, die unter Verdacht stand, von Moskau aus gelenkt zu werden und die Bundesrepublik spalten könnte, können sowohl Ensikat als auch Bahr relativieren. „Für uns war zu dieser Zeit der Prager Frühling wichtiger als die Studentenbewegung im Westen“, sagt der Kabarettist ganz ernst. Und auch Bahr erinnert sich: „Von den 68er Revolten habe ich nicht viel mitbekommen.“

Die neue Realpolitik

Dann springen die beiden, ein wenig von der Moderatorin gedrängt, zur aktuellen Weltpolitik. Ob die bevorstehenden Wahlen im Iran, Russland, Frankreich oder den USA – sowohl Bahr als auch Ensikat ist sich sicher, dass ein Regierungswechsel in diesen Staaten keine Auswirkungen auf die Weltpolitik haben wird. „Wir leben in einer gelenkten Demokratie: Jeder Staat versucht seine eigenen Interessen durchzusetzen und deswegen kooperieren wir auch mit Staaten wie dem Iran, egal wer ihn regiert. Das ist die neue Realpolitik“, erklärt Bahr.

Egon Bahr und Peter Ensikat, „die idealtypische Kombination zwischen Ost und West“, wie Augstein sie bezeichnet, stellen sich sowohl in der Diskussion wie auch in ihrem Buch als lebensfrohe Persönlichkeiten dar, die trotz oder gerade wegen ihres fortgeschrittenen Alters klare Meinungen vertreten. Nicht nur aus diesem Grund lohnt sich die Lektüre des Buchs. Es ist ein Gespräch zwischen zwei deutschen Bürgern aus zwei deutschen Staaten, die sich an die Zeit des Kalten Kriegs erinnern – und darüber hinaus denken.

Egon Bahr, Peter Ensikat: „Gedächtnislücken. Zwei Deutsche erinnern sich“, Aufbau Verlag, Berlin 2012, 204 Seiten, 16,99 Euro, ISBN: 978-3-351-02745-2

Autor*in
Romy Hoffmann

Romy Hoffmann ist Studentin der Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Regensburg. Im Frühjahr 2012 absolvierte sie ein Praktikum in der Redaktion des vorwärts.

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