Ort des unermesslichen Schmerzes
Der Kampf um Krakau mit seinem furchtbaren Ghetto beginnt zwölf Tage vor der Befreiung der Insassen des nahe gelegenen Konzentrationslagers Auschwitz. Es ist der 15. Januar 1945. Soldaten der 1. Ukrainischen Front greifen die Wehrmacht an. Im Lager Auschwitz-Birkenau sind an diesem Tag noch über 67000 Häftlinge. Die sowjetischen Soldaten beginnen ihre große Winteroffensive. Die SS in Auschwitz lässt Akten vernichten. Der leitende Lagerarzt Josef Mengele baut seine Versuchsstation ab. Zehn Tage bevor Einheiten der sowjetischen Armee das Lagertor erreichen. Das ist 70 Jahre her.
Begegnungen mit Überlebenden
Eine schmale, kurze Seitenstraße ganz in der Nähe vom Rynek, des Hauptmarktes im Zentrum von Krakau. Ein kleines Schaufenster. Eine hohe Eingangstür. Die Türglocke klingelt. Der Laden ist eng. Verglaste Vitrinen hinter einem Tresen und ein Durchgang nach hinten geben den Blick auf eine kleine Werkstatt frei. Aus der kommt ein alter Mann, deutlich über 80. Er repariert Füllfederhalter. Bronislaw, stellt er sich Roma Ligocka vor, einer älteren, eleganten Dame mit dunklen, langen Haaren, einer großen Brille. Einem offenen Gesicht. Roter Pullover, Lederjacke, bunter Schal. Sie hat das Buch „Das Mädchen im roten Mantel“ geschrieben. Sie hat das Krakauer Ghetto mit ihrer Mutter überlebt. Der Vater Auschwitz. Alle übrigen Verwandten wurden dort umgebracht. Bronislaw war im polnischen Widerstand. Die Nazis schnappten ihn. Auch er hat sie überlebt.
„Es war im Januar 1945 sehr kalt und wir hatten viel Schnee,“ erinnert er sich. Auschwitz liegt etwa 60 km westlich von Krakau entfernt. „Am Nachmittag des 27. Januar kamen die ersten sowjetischen Soldaten am Lagertor an. Es waren gar nicht mehr viele nach den schweren Kämpfen und sie wussten gar nicht, was sie da vorfanden,“ erinnert sich der alte Mann. Der Bataillonskommandeur der 450 Soldaten ist Anatoly Shapiro, ein Jude aus der Ukraine. Als die Wehrmacht nach drei Tagen harter Kämpfe in Krakau besiegt ist, hört er zum ersten Mal den Namen Auschwitz von Stadtbewohnern, erzählt Bronislaw.
Shapiro hat sehr viel später darüber unter anderem geschrieben: „Menschliche Skelette kamen uns entgegen. Sie trugen Streifenanzüge. Keine Schuhe. Es war eisig kalt. Sie konnten nicht sprechen, nicht einmal die Köpfe wenden.“ Roma Ligocka kann nicht nach Auschwitz gehen und Bronislaw auch nicht. Es ist ein schrecklicher Ort der Tränen und des unermesslichen Schmerzes, sagt sie. „Ein Ort an dem man sich bis heute fragt, ob es Gott überhaupt gibt.“ Es sei einfach nicht auszuhalten. Im Ghetto, unterhalb der Krakauer Altstadt auf der anderen Seite des Flusses, auch nicht. Sie schüttelt sich und Bronislaw schaut sie traurig an.
Das Ghetto ist so grau wie Auschwitz und auch so gemein. Ein merkwürdiger Geruch hängt über den schmalen, grauen Straßen. Es riecht nach einer Mischung aus Benzin und Kohlenstaub, Rauch und Moder. Podgorze ist der Name dieses Stadtteils. Jeder in Polen kennt ihn: Das Ghetto. Die Josefinskastraße. Niedrige, ein- und zweigeschossige Häuser. Löchrige Dächer, freiliegende Abwasserleitungen, verfallende Fassaden. Wegrutschende Bürgersteige. Kein Lachen, kein Hundegebell, scheue Menschen. Sie schauen runter, weg, drehen sich um. Roma Ligocka steht vor dem Haus Nr. 19, ist noch einmal hergekommen. „Das ist es. Hier war ich mit meiner Großmutter. Die hat auf mich aufgepasst, während meine Mutter die Toiletten bei den Nazis geputzt hat.“
In Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ gibt es ein Kind im roten Mantel. Das ist Roma Ligocka: „Wir sind an einem Ort, an dem ich sehr ungern bin, auch jetzt noch, nach so langer Zeit.“ Sie lebt in Krakau und in Berlin. Bronislaw ist im hohen Alter verstorben. Roma Ligocka hat niemanden mehr, der sich mit ihr erinnert.
ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).