Olympia-Attentat 1972 in München: Mehr Selbstkritik wagen
IMAGO/Sammy Minkoff
„Die heiteren Spiele sind zu Ende. Was das bedeutet, werden viele von uns noch gar nicht ermessen können. In diesen Stunden und Tagen haben wir uns nun neu zu bewähren.“ Als Bundeskanzler Willy Brandt seine Fernsehansprache am Abend des 5. September 1972 mit diesen Sätzen beendete, hatte das palästinensische Terrorkommando „Schwarzer September“ bereits zwei Mitglieder der israelischen Mannschaft im Olympischen Dorf von München brutal ermordet. Tags darauf, nach dem kläglich gescheiterten Versuch der bayerischen Polizei, die übrigen Geiseln am Flughafen Fürstenfeldbruck zu befreien, herrschte Gewissheit über den schrecklichen Ausgang des Dramas: Insgesamt elf Israelis hatten den Anschlag nicht überlebt; auch ein deutscher Polizist war tot. Brandt notierte in sein Tagebuch: „Dies ist ein Rückschlag, an dem wir wohl lange zu tragen haben werden.“
Deutschland präsentiert sich fröhlich und weltoffen
Mit dem Motto der „heiteren Spiele“, einem pastellfarbenen Corporate Design und einem dezidiert lockeren Sicherheitskonzept hatten die Macher*innen von Olympia ´72 einen maximal augenfälligen Kontrapunkt zu den mit völkischer Propaganda aufgeladenen Nazi-Spielen des Jahres 1936 in Berlin setzen wollen. Präsentiert werden sollte ein „neues Deutschland“, frei von nationalistischem Pomp und militaristischem Geist. Nach der fulminant fröhlichen Eröffnungsfeier am 26. August 1972 unter den luftigen Zeltdächern des neuen Olympiastadions schien der Imagewandel perfekt: Rund um den Globus herrschte Begeisterung angesichts dieser Wandlung Deutschlands zu einer weltoffenen, liberalen und friedfertigen Nation.
Die Stimmung unter den Teilnehmer*innen aus Israel war weniger euphorisch. Viele von ihnen hatten den Holocaust überlebt und zahlreiche Familienangehörige verloren. Mit entsprechend unguten Gefühlen waren sie nach München gereist, die einstige „Hauptstadt der Bewegung“, vor deren Toren das ehemalige KZ Dachau lag. Und nicht nur die immer noch spürbare Präsenz der NS-Vergangenheit schürte dieses Unwohlsein. Zweieinhalb Jahre vor Olympia hatten mehrere Attentate auf israelische und jüdische Ziele die Stadt erschüttert: Bei der versuchten Entführung einer El-Al-Maschine am 10. Februar 1970 auf dem Flughafen München-Riem durch palästinensische Terroristen kam ein Israeli ums Leben, als er sich zum Schutz seiner Mitreisenden auf eine gezündete Handgranate warf; viele weitere Passagiere wurden verletzt. Nur drei Tage später starben sieben betagte Holocaustüberlebende bei einem Brandanschlag auf das jüdische Altersheim in München – nie aufgeklärt, vermutlich aber verübt durch die linksradikalen „Tupamaros Westberlin“, deren Mitglieder große Sympathien für die palästinensische Befreiungsbewegung hegten. Eine ganze Serie weiterer antiisraelischer Attentate und Flugzeugentführungen folgte, in München und anderswo.
Nachrichtendienste warnten vor der Gefahr eines Anschlags
Nach dem Anschlag am Flughafen Riem hatte Willy Brandt erklärt, dass alles getan werden müsse, um solche Vorfälle in Zukunft zu verhindern. Bei der Trauerfeier für die getöteten Altersheimbewohner*innen war Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher noch weiter gegangen, als er versicherte: „Das deutsche Volk wird niemals mehr zulassen, daß auf seinem Boden bestimmte Gruppen von Menschen außerhalb der Gemeinschaft gestellt werden und man deshalb ihr Leben für Verbrecher freigibt. Sie alle sind Zeugen dieses Versprechens.“
Um dieses Versprechen einzulösen, hätten die zuständigen Sicherheitsbehörden umfassende Maßnahmen zum Schutz der israelischen Olympiamannschaft ergreifen müssen, aber nichts dergleichen geschah – obwohl mehrere Nachrichtendienste und auch ein Polizeipsychologe vor der Gefahr eines Anschlags gewarnt hatten. Die Polizei auf dem Gelände war in freundliche Freizeituniformen gekleidet, das leidlich abgesicherte Olympische Dorf war auch für Nicht-Athlet*innen problemlos zugänglich, und die für den geplanten Zugriff auf die Terroristen ausgewählten Beamten waren keine ausgebildeten Scharf-, sondern lediglich passionierte Vereinsschützen. Das Angebot der israelischen Regierung, eine in Geiselbefreiungen erprobte Spezialeinheit nach München zu schicken, lehnten die deutschen Verantwortlichen ab, und auch die Ratschläge des eilends angereisten Mossad-Chefs wurden entnervt in den Wind geschlagen.
Ein eklatanter Mangel an Sensibilität
Zahlreiche Facetten des Olympia-Attentats haben im Vorfeld dieses 50. Jahrestags erneut für Aufmerksamkeit gesorgt: das Versagen der bayerischen Sicherheitsbehörden, die Zurückweisung jeglicher Verantwortung für das Scheitern der Geiselbefreiung, die jahrzehntelange Weigerung, Ermittlungsakten für die um Aufklärung kämpfenden Hinterbliebenen freizugeben, der steinige Weg zur späten Einrichtung eines Erinnerungsortes 2017 und schließlich die nun in letzter Minute vor dem Jahrestag erzielte Einigung über eine angemessene Entschädigung für die Angehörigen. Aber auch ein Blick zurück auf die politische Kommunikation von deutscher Seite lohnt, offenbart er doch neben viel interessengeleiteter Selbstbezogenheit über Parteigrenzen hinweg auch einen eklatanten Mangel an Sensibilität und Empathie für die Situation der vom Attentat Betroffenen.
Das begann schon damit, dass Regierungssprecher Conrad Ahlers die fatale Falschinformation von der Befreiung aller Geiseln ungeprüft übernahm und sie am 6. September kurz nach Mitternacht vor laufenden Kameras rund um den Globus verbreitete. Sichtlich erleichtert sprach er von einer „unglücklichen Unterbrechung“ der Spiele, die hoffentlich „in ein paar Wochen vergessen“ sein werde. In Israel wähnten sich zahlreiche Menschen für kurze Zeit in dem Glauben, ihre Angehörigen hätten den Anschlag überlebt – bis der bayerische Innenminister Bruno Merk bei einer Pressekonferenz um halb 3 Uhr nachts nach quälend langer Vorrede das Gegenteil einräumen musste.
In den ersten Tagen nach dem Anschlag war vor allem das Auswärtige Amt darum bemüht, so schnell wie möglich zur Normalität zurückzufinden. „Keine Selbstkritik!“, so hieß es in einer Anweisung an alle Auslandsvertretungen, und Außenminister Walter Scheel befand: „Das Leben geht weiter!“. Weitaus einfühlsamer zeigte sich Bundespräsident Gustav Heinemann, der bei der Trauerfeier im Olympiastadion allen Angehörigen „und dem ganzen Volk Israel“ sein Mitgefühl versicherte.
Sorge um das Image, nicht um die Opfer
Der Anschlag auf die israelische Mannschaft wurde von einigen politischen Akteuren vorrangig als unbotmäßiger „Import“ des Nahostkonflikts in die Bundesrepublik und als unwillkommene Störung der „heiteren Spiele“ wahrgenommen. Man sorgte sich um die schädliche Wirkung des Attentats auf das gerade erst aufpolierte Image des Landes – weniger aber um das Schicksal der ermordeten Israelis und ihrer Angehörigen. Die Furcht vor einem internationalen „Scherbengericht“ trieb auch den Schriftsteller Günter Grass um. „Was mühsam in jahrelanger Arbeit und nicht zuletzt mit Deiner Hilfe an neuem Ansehen und Vertrauen aufgebaut worden ist“, so schrieb er am 7. September an Brandt, „wurde durch den Münchner Terroranschlag lädiert: Im In- und Ausland drohen die alten Ressentiments wieder aufzubrechen.“ Grass riet dem Kanzler zu einer weiteren öffentlichen Rede, in der er neben „Scham“ und „Ohnmacht“ auch dem Gefühl der „Ungerechtigkeit“ Ausdruck verleihen müsse, das man angesichts selbstgerechter Vorwürfe aus dem Ausland empfinden müsse.
Als der israelische Satiriker Ephraim Kishon eine Lesereise in die Bundesrepublik in Reaktion auf das Attentat absagte, schrieb Brandt ihm einen Brief: Ihm sei „unverständlich“, dass seine „Anwesenheit in der Bundesrepublik Deutschland unerwünscht sein soll.“ Kishon sei dort „nicht in größerer Gefahr als anderswo.“ Dass die Absage des populären Schriftstellers vor allem als Protest zu werten war, konnte oder wollte Brandt nicht verstehen. Seine israelische Amtskollegin Golda Meir, die zunächst sehr milde und abgewogen reagiert hatte, verschärfte ihren Tonfall in den Wochen nach „München“, je mehr sie über den Hergang des gescheiterten Befreiungsversuchs erfuhr.
Nach „Zagreb“, der auf fragwürdige Weise zustande gekommenen Freipressung der drei überlebenden Terroristen Ende Oktober 1972, zogen israelische Medien drastische Vergleiche zwischen der Bundesrepublik und dem NS-Staat. Als Brandt dies beklagte, zeigte sich Meir erneut verständnisvoll: Mit Rücksicht auf den laufenden Bundestagswahlkampf und die Beziehungen beider Länder sah sie von öffentlichen Vorwürfen ab und wies die Presse an, auf antideutsche Kommentare zu verzichten. Als sie den Kanzler ein Dreivierteljahr später zum Staatsbesuch in Israel empfing, klammerte Meir das heikle Thema „München“ in Anbetracht drängenderer Probleme aus.
Der Blick auf die Betroffenen fehlt auch heute
Blickt man auf die Entwicklung der politischen Kommunikation im Umgang mit dem Desaster von München und seinen Folgen, muss man feststellen, dass sich am Grundton nicht sehr viel geändert hat. Vonseiten so mancher Verantwortlicher schlug den um Aufklärung und Entschädigung kämpfenden Hinterbliebenen auch bis zuletzt noch eine Mischung aus Abwehr und Empathielosigkeit entgegen. Nachdem diese ihre Teilnahme an der geplanten Gedenkfeier in Fürstenfeldbruck aus Empörung über ein für sie inakzeptables Entschädigungsangebot abgesagt hatten, drohte sich der bevorstehende Jahrestag zu einer internationalen Blamage für die Bundesrepublik zu entwickeln.
Erst unter diesen Vorzeichen konnten sich der Bund, der Freistaat Bayern und die Stadt München nun, wenige Tage vor dem 5. September, zu einem erneuten und für die Angehörigen annehmbaren Angebot in Höhe von 28 Millionen Euro durchringen. So erfreulich es ist, dass eine Einigung erzielt wurde und die israelische Delegation nun doch an der Gedenkfeier teilnehmen wird: Wieder einmal hat sich die deutsche Angst vor einem außenpolitischen Imageschaden als entscheidendes Antriebsmoment erwiesen, nicht aber die längst fällige Anerkenntnis einer politischen Verantwortung und moralischen Verpflichtung.
Eine selbstkritische Auseinandersetzung der deutschen Politik und Gesellschaft mit dem Olympia-Attentat vor 50 Jahren sollte daher auch ein Nachdenken über unsere notorische Selbstbezogenheit im Umgang mit antisemitischen Vorfällen im eigenen Land einschließen – ob „importiert“ oder nicht. Wie notwendig dies ist, zeigte sich erst jüngst in den Debatten um antisemitische Kunstwerke bei der Documenta oder auch in einigen Reaktionen auf den infamen Holocaust-Vergleich des Palästinenserpräsidenten Abbas in Berlin. Viel war da von fehlender Sensibilität und mangelndem Respekt gegenüber deutschen Befindlichkeiten die Rede, aber kaum davon, was dies für Jüdinnen und Juden bedeutet – ob in Deutschland oder in Israel.
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ist Sprecherin des SPD-Geschichtsforums und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung.