Nur wir sind die echte Volkspartei! Der Parteitag in Karlsruhe 1964
Vom 23. bis 27. November 1964 hielt die Sozialdemokratie zum ersten Mal einen Parteitag in Karlsruhe ab, nachdem sie im Badischen bis dahin Mannheim und Heidelberg bevorzugt hatte. Es
referierten Fritz Erler ("Vom vierten zum fünften Deutschen Bundestag"), Marta Schanzenbach ("Frauen in Staat und Gesellschaft von heute"), Tage Erlander ("Freiheit und Ordnung in der modernen
Gesellschaft") und andere, deren Themen auch nicht peppiger formuliert waren. Willy Brandt sprach über "Grundzüge des sozialdemokratischen Regierungsprogramms".
Was war das für eine Zeit, wenn schon keine peppige, und was für ein Jahr, wenn ihm denn doch kein Machtwechsel folgte? Aus heutiger Sicht war es eine Windstille vor dem Sturm. Noch regierte
das "Wirtschaftswunder", personifiziert durch Ludwig Erhard, der als Bundeskanzler allerdings keine so glänzende Rolle mehr spielte. Noch blieb der "Muff von tausend Jahren" ungelüftet und der
Himmel über der Ruhr war eher grau als blau, denn die Schornsteine qualmten, noch unbehelligt von Rauchgasreinigung und Konjunktureinbrüchen.
Draußen im Lande, besonders unter den Jüngeren, frischte es schon auf. Es tat sich eine Menge in den Sechzigern, auch schon zu deren Beginn. Mauerbau und Kuba-Krise waren mehr oder weniger
glücklich überstanden, Fernsehbilder zum Auschwitz-Prozess legten bloß, worüber bei Tisch und in der Schule nicht gesprochen wurde, Autoritäten waren plötzlich in Frage gestellt, Männerfrisuren
wurden länger, Miniröcke kürzer, statt der proletarischen war die sexuelle Revolution angesagt und wer von der keinen Zipfel abbekam, hatte den Blues: "I don´t want to spoil the party", hieß einer
der Songs auf dem aktuellen Beatles-Album. Ich will die Party nicht stören... (nein, "die Partei" war nicht gemeint).
"Are you a Leninist?" Auf die Frage konnte man in aller Unschuld noch sagen: "Yes, but I like McCartney, too." Das sollte bald anders werden, nachdem die "68er"-Träume abgeblüht und Willy
Brandt - inzwischen war er Kanzler - die ersten Pfeifkonzerte von links zuteil geworden waren. (Rechts konnte man ihn sowieso nicht leiden.)
Die Party stören, dem Konservatismus Beine machen, die innen- und außenpolitische Stagnation beenden, namentlich in der Ost- und Deutschlandpolitik, das allerdings wollte die SPD durchaus und
schon lange, und im 64er-November von Karlsruhe ließ man daran keinen Zweifel: "Die CDU ist keine echte Volkspartei ... Die SPD - mit all ihren Unzulänglichkeiten - ist besser in der Lage,
Entscheidungen nach sachlichen Gesichtspunkten zu fällen ... Ohne sie gäbe es nicht: die Ratifikation des Atomteststopp-Abkommens, die Einrichtung deutscher Missionen in osteuropäischen Ländern,
die Präambel zum deutsch-französischen Vertrag und die beiden Passierscheinübereinkünfte in Berlin."
Wahr gesprochen vom Kanzlerkandidaten, und wie es weiterging, ist ja bekannt: Noch nicht im folgenden Jahr, sondern erst 1966 über die Große Koalition kam die SPD erstmals in der Bonner
Republik in die Regierungsverantwortung - ein Zusammengehen mit Herrn Strauß war vorübergehend unvermeidbar - und den Kanzler Willy Brandt gab es drei Jahre später. So hatte sich Karlsruhe im
Nachherein doch als Signal zum Aufbruch erwiesen.
Jens Reimer Prüss