NS-Geschichte und Migration: Warum die „Reichspogromnacht“ alle angeht
„Pass auf, dort verbrennen sie Menschen!“, sagten sie meinem Großvater, als er Ende der 1960er Jahre von der Türkei nach Deutschland aufbrach, um hier Arbeit zu finden. Der Satz war zu jener Zeit zwar nicht mehr gültig, die NS-Herrschaft war schon einige Jahre vorbei. Dennoch war die Ermordung von rund sechs Millionen Juden durch die Nazis noch immer fest in den Köpfen der Menschen verankert. Die mahnenden Worte von Holocaust-Überlebenden wie Viktor Frankl und Max Mannheimer halfen damals, die Erinnerung an die Verbrechen wach zu halten. Heute allerdings leben die meisten von ihnen nicht mehr – das Andenken an die Opfer des Nationalsozialismus droht zu verblassen.
Als Schüler der einzige, der die NS-Verbrechen kennt
Am 9. November 1938 war noch nicht vorhersehbar, welche Ausmaße die 1941 einsetzende Vernichtungspolitik annehmen würde. Dennoch bleibt die sogenannte Reichspogromnacht ein einschneidendes Datum in der deutschen Geschichte: Unzählige Synagogen, Geschäfte und Wohnungen der jüdischen Bevölkerung wurden zerstört, eine unbekannte Zahl von Menschen getötet. Über 30.000 Juden wurden in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen deportiert.
Von alledem erfuhr ich von meiner Tante, als ich in Anfang 1990er Jahren in Krefeld zur Grundschule ging. Damit war ich in meiner Klasse der einzige, der die Grundzüge der NS-Zeit kannte. Mein damaliger Klassenlehrer Herr Partenheimer wunderte sich, warum denn ausgerechnet ein „türkisches Kind“ darüber Bescheid wusste.
Meine Familie hatte damit nichts zu tun
Die Frage nach Schuld und Verantwortung kam für mich erst später. Das kritische Hinterfragen der Rolle meiner Großeltern und Eltern in der NS-Zeit fiel bei mir allerdings völlig weg. Der Grund: Meine Großeltern lebten zu jener Zeit mehr als 3000 Kilometer entfernt in einem anderen Land, meine Eltern waren noch nicht geboren.
Ich könnte es mir also einfach machen und sagen: „Meine Familie und ich haben überhaupt nichts mit diesem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte zu tun!“ Doch wie könnte ich das rechtfertigen? Ich bin hier aufgewachsen und ein Teil dieser Gesellschaft. Wie könnte ich also sagen, dass diese Geschichte nicht auch ein Teil meiner Geschichte ist?
Die Verantwortung ist da, weil ich da bin
Wenn ich heute höre, dass im Berliner Bezirk Neukölln Stolpersteine aus dem Boden gerissen werden, dann macht mich das wütend und fassungslos. Erbärmlich und beschämend ist, dass sie gestohlen wurden, nur um die Erinnerung an die ermordeten Juden zu tilgen.
Doch die Täter werden damit nicht durchkommen. Jedenfalls nicht, solange sich Menschen für eine offene und solidarische Gesellschaft einsetzen. Dass das so bleibt, sehe ich auch als meine persönliche Pflicht und Verantwortung. Diese speisen sich aus der Geschichte unseres Landes. Ich muss diese nicht selbst in Gänze erlebt haben, um mich verantwortlich für Gegenwart und Zukunft zu fühlen. Die Verantwortung ist einfach da, weil ich da bin! Oder wie es einst der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer sagte: „Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht.“
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