Geschichte

Nikolaus Osterroth: Wie aus einem Beter ein Sozialdemokrat wurde

Mit 13 Hilfsarbeiter in der Ziegelei, später Bergmann im Tonbergbau. 1900 gründet Nikolaus Osterroth den SPD-Ortsverein Hettenleidelheim und wird vom Beter zum Kämpfer.
von Lothar Pollähne · 20. September 2023
Nikolaus Osterroth (* 16. Februar 1875 in Hettenleidelheim; † 19. September 1933 in Werder (Havel)) deutscher Politiker (SPD)
Nikolaus Osterroth (* 16. Februar 1875 in Hettenleidelheim; † 19. September 1933 in Werder (Havel)) deutscher Politiker (SPD)

Am letzten Aprilsonntag des Jahres 1898 fahren rote Radler aus Ludwigshafen durch die pfälzische Provinz, um Flugblätter für die bevorstehenden Reichstagswahlen zu verteilen. Am Mittag erreichen sie Hettenleidelheim, eine Gemeinde, die vom Tonabbau und Tonziegelfabriken geprägt ist. Ein Flugblatt fliegt durch das offene Fenster eines jungen Mannes, der nach dem Kirchgang gerade beim Mittagessen ist. Er hebt das Flugblatt auf, beginnt zu lesen und erlebt eine Offenbarung.

Erster Sozialdemokrat vom Hettenleidelheim

„Satz für Satz war eine Anklage gegen die Regierung und die bürgerlichen Parteien“, schreibt er in seinen Erinnerungen. „Ich traute meinen Sinnen nicht: sechs Pfennig Steuer auf ein Pfund Salz! Ein Gefühl wilder Empörung packte mich über die offenbare Ungerechtigkeit dieses Steuersystems, das diejenigen schonte, die am besten zahlen können, und das diejenigen ausplünderte, die ohnehin schon aus bitterster Not am Leben verzweifelten.“

Der junge Mann rennt durch das ganze Dorf und findet die Radler bei der Rast in einer Wirtschaft, erhält ein paar Zeitungen und das „Erfurter Programm“, das er die ganze Nacht studiert mit dem Gefühl, „als ob sich all diese Gedanken mit Flammenschrift in mein Gehirn eingruben.“ Am 1. Mai erwacht der junge Mann nach kurzem, fieberhaften Schlaf“ zum ersten Mal als Sozialdemokrat. Aus dem Beter Nikolaus Osterroth ist der erste Sozialdemokrat vom Hettenleidelheim geworden.

Mit 13 Hilfsarbeiter in einer Ziegelei

Bis zu diesem Wendepunkt ist Nikolaus Osterroth geprägt von der Armut, den Heilversprechen der katholischen Geistlichen, dem Gemeinschaftsgefühl des Kolpingvereins und der Anpassung an den wilhelminischen Obrigkeitsstaat. Bereits mit 13 Jahren muss er Hilfsarbeiter in einer Ziegelei zum Familienunterhalt beitragen. Später arbeitet er für 50 Pfennig Tagelohn als Bergmann im Tonbergbau. Am 1. Mai 1898 treffen sich viele Bergleute, um — noch unorganisiert — gegen verschärfte Arbeitsbedingungen zu protestieren. Nikolaus Osterroth agitiert die wütenden Männer, und am Abend ist die Keimzelle für den Bergarbeiterverband in Hettenleidelheim gelegt. Die aufklärerische Tour der roten Radler zeitigt in diesem Teil der Pfalz ihren Erfolg. Bei der Reichstagswahl im Juni 1898 erhält der Sozialdemokrat Franz-Josef Ehrhardt mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen.

Nikolaus Osterroth gründet im Jahr 1900 den SPD-Ortsverein Hettenleidelheim und wird somit auch formell Sozialdemokrat. Er agitiert fortan für den Bergarbeiterverband und die SPD. 1902 wird er wegen „politischer Vergehen und gewerkschaftlicher Arbeit“ von der Tongrubenleitung entlassen. Arbeit findet er vorübergehend als Lagerhalter des Konsumvereins in Hettenleidelheim. 1904 beginnt Osterroths politische Karriere. Er wird zum Parteisekretär für die Saarkreise ernannt und gründet die Zeitung „Saarwacht“, deren Redaktionsleitung er wahrnimmt. Wieder wird Nikolaus Osterroth wegen „politischer Vergehen“ belangt. 1905 muss er eine fünfmonatige Gefängnisstrafe absitzen. 1907 kandidiert Nikolaus Osterroth erfolglos im Wahlkreis „Ottweiler-St. Wendel“ für den Reichstag.

„Vom Beter zum Kämpfer“

Im Dezember 1907 beginnt Nikolaus Osterroths Tätigkeit als Arbeitersekretär im niederschlesischen Waldenburg, und er übernimmt die Leitung der Bildungsarbeit der SPD im Waldenburger Steinkohle-Revier. Wiederholt wird er wegen politischer Vergehen oder „Majestätsbeleidigung“ zu Geld- und Haftstrafen verurteilt. Als er im Februar 1902 eine zweimonatige Gefängnisstrafe absitzen muss, nutzt er die Zeit und schreibt seine Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Hettenleidelheim nieder, die 1920 mit  dem Titel „Vom Beter zum Kämpfer“ im Verlag der Buchhandlung Vorwärts in Berlin erscheinen.

1913 zieht Nikolaus Osterroth mit seiner Familie nach Westfalen, wo er im August seine Arbeit als Leiter des Bergarbeiterverbandes für den Bezirk Hamm aufnimmt. Wieder eckt er an und wird im Jahr darauf zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, dieses Mal wegen „Kronprinzenbeleidigung“. Anfang 1915 wird Nikolaus Osterroth amnestiert, muss allerdings als Landsturmmann in den Krieg ziehen. Nach Interventionen des Bergarbeiterverbandes kann Osterroth im Januar 1917 nach Hamm zurückkehren und seine Tätigkeit als Bezirksleiter wieder aufnehmen. Seine Reputation bringt ihn im November 1918 an die Spitze des Arbeiter- und Soldatenrates für den Kreis Hamm-Soest und trägt ihm die Kandidatur für die Wahl zu verfassunggebenden Nationalversammlung ein. Nikolaus Osterroth wird gewählt und macht sich in der sozialdemokratischen Fraktion einen Namen als Propagandist eines modernen Betriebsräte-Gesetzes.

Abgeordneter, Sozialdirektor und Vorstandsmitglied

In einem Artikel für die „Volkszeitung für Sachsen-Weimar-Eisenach“ begründet Nikolaus Osterroth „Das Rätewesen in seiner fortschrittlichen und möglichen Gestalt“. Eine „Räterepublik“ nach russischem Vorbild lehnt er ab, denn „die Diktatur einer Minderheit ist für die Sozialdemokratie nicht diskutabel.“ Das Räteprinzip hält er dennoch hoch: „Das Brauchbare aus dem Rätegedanken und eins der wichtigsten Mittel, die Produktion einer größeren Ergiebigkeit entgegen zu führen, die wir als Vorbedingung zur Sozialisierung brauchen, sind die Betriebsräte, die zugleich ein Instrument der wirtschaftlichen Mitbestimmung des Arbeiters im Produktionsprozess sein sollen und müssen.“

Im November 1919 wird der Bergmann Nikolaus Osterroth zum Bergbaureferenten im Reichswirtschaftsministerium und später auch im Reichsarbeitsministerium berufen. Mit der Gründung der Tageszeitung „Der Hammer“ schafft er sich ein Organ für seine publizistischen Ambitionen, bleibt aber auch für andere sozialdemokratische Publikation wie den Vorwärts aktiv. Nachdem er die Wahl in den Reichstag verpasst hat, zieht Nikolaus Osterroth im Februar 1921 als Abgeordneter für den Wahlkreis Westfalen-Süd in den Preußischen Landtag ein, dem er bis zum Entzug des Mandats durch die Nazis am 22. Juni 1933 angehört.

Anfang 1924 wird Osterroth Sozialdirektor und Vorstandsmitglied der „Preußischen Bergmanns- und Hütten Aktiengesellschaft“ (Preussag). Seinen Wohnsitz nimmt er mit seiner Familie in Werder an der Havel. Dort stirbt der „Kämpfer“ Nikolaus Osterroth am 19. September 1933 im Alter von nur 58 Jahren an den Folgen einer chronischen Erkrankung. Bei seiner Beerdigung sprechen der langjährige Vorsitzende der Bergarbeiter-Gewerkschaft Fritz Husemann und der 1945 von den Nazis ermordete Theodor Haubach und loben trotz der Überwachung durch die Nazis Osterroths unermüdlichen Einsatz für Gerechtigkeit und Demokratie. Den Nachlass hat Nikolaus Osterroths Sohn, der SPD-Chronist Fritz Osterroth in einer ausführlich kommentierten Materialsammlung mit dem Titel „Das Leben eines Bergarbeiterführers“ zusammengefasst.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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