Geschichte

Narben auf der Seele

von ohne Autor · 28. Mai 2009
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Der Bodenbelag trägt ein Blumenmuster. Blumen. Wer denkt sich so etwas aus? Braune Blumen im 60er-Jahre-Design auf beigem Grund. Nur unterbrochen von den Eisenverankerungen der Gittertüren, die den Gefängnisgang in gut überschau- und überwachbare Parzellen teilt.

Überhaupt gibt es hier viele Blumen. Keine echten. Aber aus Stoff und Kunststoff, auf Böden, Gardinen und Tischdecken. Oder Tapetenmustern. Letztere hat Matthias Melster oft gezählt. An den 1000 Tagen, die er im Verhörzimmer verbrachte. Nein, es waren nicht wirklich 1000, eher um die 100, 120. Denn Melster saß fünf Monate im Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin-Hohenschönhausen. Während dieser Zeit wurde er an circa sechs von sieben Tagen verhört. Doch gemessen an der Bedeutung der Haftzeit an seinem ganzen weiteren Leben, treffen es wohl die 1000 Tage eher.

Matthias Melster war einer der Insassen des größten so genannten Stasi-Gefängnisses der DDR. Von 1951 bis zur Schließung der Haftanstalt im Jahr 1990 saßen dort Männer und Frauen ein, die sich dem Regime widersetzten, entzogen oder dies versuchten. In den 50er Jahren waren das neben Streikführern des Aufstandes vom 17. Juni 1953 auch Anhänger der Zeugen Jehovas, Reformkommunisten, in Ungnade gefallene Politiker und SED-Kritiker aus dem Westen. Ab den 60er Jahren saßen in Hohenschönhausen viele DDR-Bürger, die die Ausreise anstrebten oder denen ein Fluchtversuch misslungen war.

Nur eine falsche Frage

Zu ihnen gehört Matthias Melster. Nach rechtsstaatlichen Maßstäben, das betont der 42-Jährige immer wieder, war er unschuldig. Er war einfach einer, der sich nicht den Mund verbieten lassen wollte, der abenteuerlustig, freiheitsliebend und wissbegierig war. Schon als Kind kollidierte er mit dem Regime. "Das erste Mal wurde ich mit 14 Jahren verhaftet", berichtet Melster. Er hatte seine Lehrerin gefragt, warum es in der DDR keine freien Wahlen gab. Statt zu antworten, rief sie die Polizei. Matthias Melster verbrachte seine erste Stunde auf der Wache. Mit 14. Weitere Verhaftungen folgten, weil er Aufnäher der Friedensbewegung mit dem Schriftzug "Schwerter zu Pflugscharen" trug.

Das Abitur konnte sich der Heranwachsende damit abschminken. Seine Widerspruchsgeist freilich wurde noch gestärkt. Über die evangelische Kirche knüpfte er Kontakte zur Oppositionsszene. So kam Melster an verbotene Bücher wie Orwells "1984" oder auch die Charta der Menschenrechte und die KSZE-Schlussakte von Helsinki, die Vereinbarungen über die Einhaltung von Menschenrechten enthielt und unter anderem vom damaligen DDR-Staatschef Erich Honecker unterzeichnet wurde.

Wer so die Fühler ausstreckte, musste wohl bald anstoßen. Melster machte eine Ausbildung zum Zahntechniker, da dem sehr guten Schüler mit dem Abitur auch das gewünschte Medizinstudium verweigert wurde. "Ich merkte, das geht hier nicht, ich muss hier weg." Drei Ausreiseanträge stellte er - ohne Aussicht auf Erfolg.

1987 dann setzte Matthias Melster alles auf eine Karte: Mit einer Freundin wagte er die Flucht über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. Drei Zäune waren zu überwinden. Zwei schafften die beiden, dann landeten sie in einem Wald, verloren die Orientierung, wurden von den Hunden der Grenzsoldaten gefasst, bevor sie den letzten Zaun zwischen sich und der Freiheit überhaupt sehen konnten. Republikflucht wurde in der DDR mit Gefängnis bestraft.

Die Erinnerung muss raus

"Was ich getan hatte, war klar. Ich hätte in kurzer Zeit verurteilt werden können", sagt Melster. Doch vor Prozess, Urteil und Antritt der regulären Haftstrafe landete Melster in der U-Haft. Für eine ihm unbekannte Dauer. "Sie wollten ihre Macht demonstrieren, mich brechen", ist Melster überzeugt.

Die Erinnerung muss raus, immer wieder, sonst bahnt sie sich ihren eigenen Weg - in Albträume. Um die Erinnerung also im Zaum zu halten, führt Matthias Melster Besuchergruppen durch Hohenschönhausen. Immer mehr Menschen wollen sehen, hören, begreifen, wie die Stasi mit DDR-Bürgern umging.

Die Lagergeschichte beginnt 1945. In diesem Jahr beschlagnahmte die sowjetische Besatzungsmacht ein ursprünglich als Großküche der NS-Volkswohlfahrt errichtetes Gebäude und funktionierte es zum Speziallager um. Nazis und Spione sollten dort sitzen, vielfach litten dort aber Missliebige und Verleumdete.

1946 wurde das Speziallager Nr. 3 aufgelöst. Um kurz darauf den Keller der Großküche als Untersuchungsgefängnis zu benutzen. Diese Keller sind heute noch zu besichtigen und ein wahres Gruselkabinett. Winzige Zellen, kurze Holzpritschen, kein einziges Fenster, Räume, die zur Abstrafung Gefangener geflutet werden konnten. Völliger Horror stellt sich ein, wenn die Besuchergruppen ein Loch in der Wand besichtigen in das besonders widerständige Häftlinge gesteckt wurden, die durch die üblichen Schläge nicht zu brechen waren.

Neben NS-Verdächtigen saßen vor allem politische Gegner in dem Kellerverlies, das den Beinamen "U-Boot" erhielt. Es waren Angehörige von SPD, CDU und LDPD aber auch in Ungnade gefallene Kommunisten und sowjetische Offiziere. Die meisten wurden später von sowjetischen Militärtribunalen zu Zwangsarbeit verurteilt.

1951 übernahm das ein Jahr zuvor gegründete Ministerium für Staatssicherheit (MfS) das Kellergefängnis. Erst Ende der 50er Jahre wurde es durch einen Neubau ersetzt. Nun änderten sich die Methoden. War im "U-Boot" körperliche Gewalt alltäglich, wurde nun psychische Gewalt ausgeübt.

"Es ist sehr schwer zu erklären, was es bedeutete, hier gefangen zu sein", sagt Melster. "Es sieht alles schön aus, wir hatten kein Narben und keine Knochenbrüche." Sagt er, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und fügt hinzu: "Die Narben auf der Seele sind unsichtbar."

Jetzt erschießen sie Dich

Per LKW kam Melster 1987 nach Hohenschönhausen. Freilich ohne dass er wusste, wo er war und ohne dass die Nachbarschaft etwas mitbekam. Denn das Areal um das Gefängnis war Sperrbezirk, die Gefangenen wurden in grauen Transportern mit unverfänglichen Aufschriften wie "Blumengroßhandel" oder "Bäckerei" hergebracht. Oder auch mal herumgefahren.

So erfuhr Melster ca. sechs Mal eine Behandlung, die ihn in Todesangst versetzte: Ohne zu erfahren was los sei, wurde er in einen dieser Transporter verfrachtet und gefesselt. Bewacht von schwerbewaffneten Männern, die ihre Kalaschnikows hörbar luden, wenn er an ihnen vorbeikam. "Der erste kurze Gedanke war, ich komme frei, nach Westberlin." Lange hielt sich die Hoffnung nicht. "Der Mensch kann nun mal nicht aufhören zu denken", sagt Melster. "Er denkt und denkt, es rattert und irgendwann bist du dir sicher, dass die jetzt mit dir in den Wald fahren und dich erschießen." - Nach vielleicht einer Stunde Herumfahren wurde Melster zurück gebracht. Ohne, dass etwas passiert war. Außer, dass er Todesangst hatte. Noch fünfmal wiederholte sich das. "Beim zweiten Mal dachte ich zunächst: Das Spiel kenne ich ja. Aber dann schauten die Bewacher noch finsterer und luden die Waffe drei Mal nach." Und die Angst war wieder da.

Die Häftlinge wurden einzeln gehalten, sahen niemanden außer der Wachleute, die absolutes Redeverbot hatten. Nur Befehle wir "Schnell, schnell" oder "Gesicht zur Wand" waren zu hören. "Wenn sich zwei trafen, dann mit Absicht", schildert Melster. Die Freundin, den Mann, den Sohn. Damit man weiß: Er, sie ist also auch geschnappt.

Alle Insassen litten unter Schlafentzug, der wurde herbeigeführt durch absurde Regelungen. Geschlafen werden durfte nur auf dem Rücken, mit den Händen auf der Decke und dem Gesicht zur Tür. Alle paar Minuten wurde dies kontrolliert, zu diesem Zweck ging ein Scheinwerfer an. War der Gefangene wirklich eingeschlafen und dabei in eine andere Position gerutscht wurde er sofort durch lautes Rütteln am Gitter geweckt. "Hier war nachts ein mördermäßiger Krach", sagt Melster, während er eine Gruppe an den Zellen vorbeiführt. Er ist so detailreich, weil es ihm wichtig ist, das Grauen zu schildern, das ihn selbst in diesem hellen, geblümten Knast überkam.

"Alles Persönliche war weg", berichtet er weiter. Und meint wirklich alles. Auch den Namen. "Fünf Monate lang war ich nur noch Nummer 312", sagt er und hält sich am Gitter fest. "Dann ist man kein Mensch mehr."

Beim Verhör standen die Gewinner schon fest

Es war ein ausgeklügelter Apparat, dessen Opfer in Hohenschönhausen saßen. Und ein bombastisch ausgestatteter. "Wir hatten jeder ein eigenes Büro", erzählt Melster und beweist Galgenhumor. Denn tatsächlich gab es 103 Zellen für je einen Gefangenen und 120 bis 130 Verhörzimmer. So dass für jeden Häftling zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Raum zur Verfügung stand. Und Personal. 450 bis 500 psychologisch geschulte Offiziere arbeiteten in Hohenschönhausen. Stundenlang wurde Melster zur Oppositionsszene befragt, zuKontaktmännern aus dem Westen und geheimen Treffpunkten.
"Die Gewinner standen von Anfang an fest", sagt er über das beinahe tägliche "Spiel" im Verhörzimmer.

Nach fünf Monaten wurde Matthias Melster vor Gericht gestellt und wegen ungesetzlichem Grenzübertritt zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt. Er saß dann in Karl-Marx-Stadt, bis er von der Bundesregierung freigekauft wurde und Anfang 1988 die DDR verlassen konnte. Gegen Hohenschönhausen sei die Haft in einem regulären Gefängnis mit Verbrechern "nicht so schlimm" gewesen. "Dort gab es Arbeit, man konnte sich unterhalten."

Es war so schlimm, wie man sich eben ein Gefängnis vorstellt. Das Stasi-Gefängnis war etwas anderes: "Das hatten wir vorher nicht ahnen können." Heute denkt Melster: "Alle die hier drin waren, haben Probleme, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen."

Kontakt: Gedenkstätte Hohenschönhausen, Genslerstraße 66, 13055 Berlin, Tel 030 / 98 60 82 34 www.stiftung-hsh.de
Das Artikel erschien in der vorwärts-Ausgabe 12/2008 in der Beilage Zeitblende: Was von der Wende übrig blieb Fotografie Dirk Bleicker

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