Moskauer Vertrag: Als Willy Brandt Deutschlands Verhältnis zum Osten neu begründete
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An Prunk sparte die sowjetische Führung nicht, als am 12. August 1970 die Unterzeichnung des „Moskauer Vertrages“ anstand. Die gesamte Partei- und Staatsführung der Sowjetunion war erschienen. Im Katharinensaal, einem der drei Festsäle des Kreml, unterzeichneten Bundeskanzler Willy Brandt und Ministerpräsident Alexej Kossygin das Abkommen. KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew baute sich hinter Kossygin auf und zeigte, wer tatsächlich der mächtigste Mann war.
Willy Brandt war nicht zum Feiern zumute
Die deutsche Seite erkannte im Vertrag die europäischen Nachkriegsgrenzen an. Das war keine Vorleistung; Bonn holte nur nach, was die Verbündeten im Westen längst vollzogen hatten. Willy Brandt war zum Feiern nicht zumute. Von Moskau aus erklärte er in einer Fernsehansprache den Zuschauer*innen in Deutschland, dass der Vertrag Ergebnis einer nüchternen Betrachtung der Realitäten sei. Denjenigen, die ihm daraus einen Vorwurf machten, erwiderte der Bundeskanzler: „Mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war.“ Niemand könne der Geschichte seines Volkes entfliehen; das Deutsche Reich sei von Adolf Hitler zerstört worden.
Der Bundeskanzler erinnerte in seiner Ansprache an den Moskau-Besuch von Konrad Adenauer 15 Jahre zuvor. Aber nun müsse das Verhältnis zum Osten neu begründet werden, Wunschdenken ein Ende finden. Dazu waren Adenauers Erben nicht bereit. Mit Zähnen und Klauen bekämpften CDU und CSU die Ostpolitik. Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag, Gewaltverzicht, Anerkennung der Nachkriegsgrenzen, auch zwischen der DDR und der Bundesrepublik, waren für sie tabu.
Die Vorbereitung von Egon Bahr zahlt sich aus
Willy Brandt überwand die internationale Isolierung, in die sie die Mutlosigkeit der unionsgeführten Regierungen geführt hatten. Mehr noch: Die sozial-liberale Regierung setzte sich an die Spitze der Entspannungsbestrebungen zwischen Ost und West. In einem atemberaubenden Tempo brachte sie die Verhandlungen mit der Sowjetunion, Polen und der DDR sowie über den Status von West-Berlin zu erfolgreichen Abschlüssen. Es zahlte sich die intensive gedankliche Vorbereitung aus, die Egon Bahr in der Zeit der Großen Koalition von 1966 – 1969 betrieben hatte.
In der Rückschau ist von größter Bedeutung, dass es ihm bei den Gesprächen in Moskau gelungen war, der sowjetischen Führung die Formel von der „Unveränderbarkeit“ der Grenzen auszureden und stattdessen deren „Unverletzlichkeit“ zu fixieren. Das ermöglichte friedliche Grenzveränderungen im Konsens aller Beteiligten und war 1990 der Schlüssel für eine mit dem Völkerrecht und den vertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik konforme deutsche Einheit. Die Erleichterungen für den Besuch von Bundesbürgern in der DDR, die ebenfalls ein Ergebnis der Ost- und Deutschlandpolitik waren, verhinderten in den Folgejahren, dass die beiden Teile der deutschen Nation sich gänzlich entfremdeten.
„Neue Ostpolitik“ als Ergänzung zur Westbindung
Der Erfolg der „Neuen Ostpolitik“ hatte aber auch viel damit zu tun, dass sie nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung zur Westbindung der Bundesrepublik konzipiert war. Die Zugehörigkeit zur NATO stand nie zur Debatte. In der Europäischen Gemeinschaft erwies sich die SPD/FDP-Regierung als Motor. Bundeskanzler Willy Brandt konnte die französische Blockade überwinden und Großbritannien, Irland sowie Dänemark die Tür zur EG öffnen. Weitere Schritte zur Vertiefung der politischen Zusammenarbeit in der EG gelangen in Brandts Amtszeit. Zukunftsmusik blieb vorerst sein Werben für eine europäische Währungsunion, die bis 1980 geschaffen werden sollte.
Willy Brandts Ostpolitik erfuhr eine dreifache Krönung: 1971 durch den Friedensnobelpreis, 1972 durch den triumphalen Wahlsieg und 1989/90 durch die deutsche Einheit. Deshalb wird immer wieder die Frage gestellt, welche Lehren das damalige Vorgehen für die heutige Politik bereithält. Vertreter*innen ganz unterschiedlicher Konzeptionen berufen sich auf Willy Brandt und versuchen damit, ein Stück seines Glanzes auf sich zu lenken. Einfachen Wiederholungen hat Brandt eine klare Abfuhr erteilt. Jede Zeit will eigene Antworten, hieß es unmissverständlich 1992 in seiner Abschiedsbotschaft an die Sozialistische Internationale.
Welche Lehren von Brandt bleiben
Einige nicht zeitgebundene Bestandteile der Ostpolitik, allgemeiner gesagt: von Willy Brandts Außenpolitik, lassen sich aber benennen. Dazu gehört, der anderen Seite auf Augenhöhe zu begegnen, nach gemeinsamen Interessen zu suchen statt die Differenzen zu betonen und auf die Dynamik einmal begonnener Kommunikation zu setzen, auch wenn anfänglich wenig Hoffnung auf Erfolg besteht. Auch die Überzeugung von der Strahlkraft der eigenen Botschaften und der eigenen Werte gehörte zu den Essentials der Ostpolitik. Europa ist immer noch der Sehnsuchtsort für Millionen Menschen auf der Welt – weil sie überzeugt sind, dass man hier am besten leben kann. Diese Soft Power stärker global zu nutzen, bleibt ein Desiderat.
Und noch eines: Wer in der Politik etwas bewegen will, muss bereit sein zum Wagnis. Als Willy Brandt 1969 die Arbeit aufnahm, war seine Mehrheit im Bundestag alles andere als stabil und sie schwand immer weiter. An Mut zur Veränderung im Interesse des eigenen Landes und im Interesse des Friedens in Europa aber ließ sich diese Regierung nicht übertrumpfen. Mehr Mut, weniger Verzagtheit: Das mag eine „Lehre“ für heute sein.
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