Wenn Egon Bahr am 18. März 90 90 Jahre alt wird, wird einer seiner damaligen Gesprächspartner, Valentin Falin, aus Moskau anreisen und seinem Freund persönlich gratulieren. Der bald 86jährige, in Leningrad geborene Falin, war zwischen 1971 und 1978 Botschafter der UdSSR in Bonn.
Es gibt eine schöne und einfühlsame Geschichte über Egon Bahr. In den Abendstunden eines sehr kalten Januartages 1970 steht er im Moskauer Hotel "Ukraina" in der 28. Etage am Fenster, schaut auf das Lichtermeer der Stadt und „die scheinwerferbestrahlten goldenen Kuppeln“ des Kremls und fragt sich: „Das war also Moskau, die Stadt, in der so viele Menschen vieler Nationen ihre Hoffnungen und Niederlagen erlebt hatten. Unser Botschafter Schulenburg war gescheitert bei dem Versuch, den Krieg zu verhindern. Wehner, der damals hier lebte, hatte die entsetzliche Mutation vom Feind zum Freund zu erleiden. Wie würde ich aus dieser Stadt wegfahren?“ Was er in diesem Moment nicht wissen kann, ist, dass er mehr als 55 Stunden mit Andrej Gromyko verhandeln wird. So lange wie kein anderer westlicher Politiker vor ihm. Es ist der Beginn der erfolgreichen Ostpolitik von ihm und Willy Brandt.
Charmant, aufmerksam, nachdrücklich
Unmittelbar nach dem Wahlsieg und zum ersten Mal nach dem Weltkrieg hatte die Regierung Brandt/Scheel Verhandlungen mit der sowjetischen Führung aufgenommen. Das war für viele im konservativen, traditionellen Lager etwas Unerhörtes, Unverschämtes, eine Art Ausverkauf und Vaterlandsverrat. Entsprechend beschimpft, denunziert wurden Bundeskanzler Willy Brandt und sein Unterhändler Egon Bahr. Der ist ein Meister des Verhandelns.
Diskret, charmant, aufmerksam, nachdrücklich, nicht ohne Raffinesse. Moskau bringt den großen Durchbruch der von ihm und Brandt entwickelten Politik des Wandels durch Annäherung mit der Unterzeichnung des Vertrages im August 1970. Nur neun Jahre nach dem Bau der Mauer. Dieser 13. August 1961 war für Egon Bahr der Markstein in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er war Ereignis, Auslöser und Antrieb für die Politik der kleinen Schritte, die spätere Ostpolitik, die danach unter anderem zum Vertrag mit Polen und dem Grundlagenvertrag mit der DDR führte. Die Erfolgsgeschichte in der nur kurzen Kanzlerschaft von Willy Brandt.
Mit einem Mann, Egon Bahr, an seiner Seite, den Friedrich Schorlemmer als unbestechlich bezeichnet. Zu dem er „uneingeschränktes Vertrauen“ hat: „Weil ich aus nunmehr fast 40 Jahren weiß, worauf ich mich einlasse, wenn ich mich mit ihm einlasse.“ Dieser weltweit hoch geschätzte Architekt der deutschen Ostpolitik zu Zeiten des Kalten Krieges hat einen langen und spannenden Weg hinter sich. Einen Weg hinauf in die oberen Etagen der Machtzentren jener Zeit.
Berater und Freund Willy Brandts
Einen Weg hinein in die politischen Kulissen dieses die Welt, Europa und Deutschland so lange beherrschenden Konfliktes zwischen Ost und West nach 1945. Seine Wege führten unter anderem nach Moskau und Leningrad, nach Dresden und Ost-Berlin, nach Warschau und Tiblissi, nach Washington und Wien. Seine Gesprächspartner waren Henry Kissinger und Andrej Gromyko, Valentin Falin und Alexej Kossygin, Erich Honecker, Michael Kohl und viele, viele mehr. Er war der Berater, der vertraute und der spätere Freund von Willy Brandt.
„Egon Bahr ist der intelligenteste und zuverlässigste Mann, der sich von Berlin und Bonn aus um die Überwindung des Kalten Krieges bemühte,“ sagt Richard von Weizsäcker: „Ich schätze ihn hoch.“ – Egon Bahr wird vom Mitarbeiter Brandts 1960 im Rathaus Berlin-Schöneberg zum, wie er es einmal selbst formuliert hat, Kammerdiener Brandts, über den er einmal geschrieben hat: „Willy Brandts war sensibel, selbstkritisch und klug genug, die Veränderungen seines Ichs zu registrieren, in den verschiedenen Stadien, in denen ihm Macht zuwuchs. Er hätte auch die Gabe besessen, darüber etwas mitzuteilen. Ein ganzes Bündel von Gründen hat ihm wohl nahe gelegt, diesen Teil seines Lebens verhüllt zu lassen, auch um nicht Männer und Frauen zu verletzen, die Anspruch auf eine subjektive Gerechtigkeit und die im Laufe der zeit veränderten Urteile gehabt hätten.“
Die beiden Männer haben eine Politik entworfen und gemacht – in Zeiten der großen Konfrontation zwischen den Machtblöcken – um Spannungen abzubauen, Verständnis zu wecken, die Welt friedlicher zu machen. „Wandel durch Annäherung“: In den harten politischen Zeiten der 60ger und 70ger Jahre mit vielen offen und versteckt agierenden Gegnern.
Unbestechlich und ehrlich
Egon Bahr hat sich nicht einschüchtern lassen. Hat das Gespräch gesucht mit jenen, mit denen geredet werden musste. Es ist eine Politik gewesen, die heute mehr denn je gelten muss. „Er hat die Fähigkeit, gegenüber Einzelnen oder als Leiter einer Sitzung konzentriert zuzuhören, gepaart mit einer Bereitschaft, ehrlich und nicht nur taktisch auf Gesprächspartner einzugehen und seine Gedanken undogmatisch aufzugreifen, um sie für ein gemeinsames Ziel zu gewinnen und dabei nachzugeben, ohne je seine eigenen Prinzipien aufzugeben,“ sagt sein langjähriger Mitarbeiter Wolfgang Biermann.
Der Freund Valentin Falin beendet seine 1993 erschienenen „Politischen Erinnerungen“ mit folgenden Sätzen: „Unkontrollierte und unbeschränkte Macht haben Gorbatschow verdorben. Politisch, moralisch, ideell. Mieczyslaw Rakowski, der spätere polnische Regierungschef, bemerkte (…) in einem Interview mit Oriana Fallaci: „Selbst ein Engel sündigt, wenn er mit einer Versuchung, wie die Macht es ist, in Berührung kommt und niemand auf ihn acht gibt.“ – Nichts deutet darauf hin, dass dieser Satz Rakowskis auf Egon Bahr zutrifft. Die Macht sowie sein jahrzehntelanger politischer Einfluss haben ihn weder verdorben noch ihm etwas anhaben können. Das vor allem macht ihn so einzigartig, so einmalig.
ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).