Im Münzenbergsaal des Neuen Deutschlands (ND) am Franz-Mehring-Platz ist am Mittwochabend jeder Platz besetzt. "Eine große Rolle in unserem Buch spielt der Vorwurf, die DDR habe Deutschland gespalten. Das ist eine historische Lüge", sagt der 91-Jährige auf dem Podium. Selbst im Foyer sitzen und stehen Menschen, die gespannt seinen Worten zuhören. Heinz Keßler, ehemaliger DDR-Verteidigungsminister und Armeegeneral, begründet vor rund 200 Menschen, warum sein Buch "Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben" wichtig sei.
"Es gibt die Notwendigkeit zu helfen, dass die neuen Generationen die heutigen Entwicklungen richtig deuten. Deutschland wurde durch die BRD gespalten. Diese hat auch versucht, die DDR zu beseitigen." Man wolle die jungen Generationen wissen lassen, was bis zum Mauerbau 1961 wirklich passiert sei.
Er verliert kein Wort über die Gründe der rund 2,8 Millionen DDR-Flüchtlinge, die bis 1961 das Land verließen. Stattdessen spricht er von Menschenhandel, den die BRD betrieben hätte und somit der DDR Wirtschaftskraft weggenommen hätte.
Geschichte aus DDR-Sicht
Gemeinsam mit dem DDR-Generaloberst a.D. Fritz Streletz hat Keßler 224 Seiten verfasst. Die Buchpräsentation scheint als lockeres Gespräch der beiden und ND-Geschäftsführer Olaf Koppe gedacht. Nachdem Keßler seinen halbstündigen Vortrag beendet, wird Streletz in das Gespräch eingeführt. Er öffnet sein angefertigtes Manuskript und liest zwanzig Minuten vor, bis er unterbrochen wird.
Sie hätten gewusst, dass es im Rahmen des 50-jährigen Jahrestages eine "gewaltige Hetzkampagne" geben würde. Er listet mit "Ulbrichts Mauer", "Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährliche Ort der Welt" und "Die Todesoper der Berliner Mauer" drei Bücher auf, die seine These belegen sollen. Er stellt die Bücher höhnisch vor und betont bei zweien, dass diese von Amerikanern verfasst wurden. "Unsere Aufgabe besteht darin, eine Einschätzung aus Sicht der DDR darzulegen", begründet Streletz die Idee für das Buch.
Drei Seiten einer Geschichte
Streletz sagt: "Jede Geschichte hat drei Seiten: Deine, meine - und die Wahrheit." Was die beiden, für den Schießbefehl Verurteilten, anbieten gehört definitiv nicht auf die Seite der Wahrheit. Sie verlieren sich in kleinen Details der Abstimmung zwischen der DDR und der Sowjetunion. Verantwortung schieben sie nach Moskau, als Satellitenstaat hätten sie nur ausgeführt. Die Mauer wird als Maßnahme verteidigt, die zur Friedenssicherung nötig gewesen sei. Immerhin hätten die Alliierten den Mauerbau toleriert.
Dass Ulbricht seit 1952 Maßnahmen zur Schließung der Grenzen plante, blenden sie aus. Chruschtschow forderte die DDR auf, den Sozialismus endlich umzusetzen. Die Entwicklungen 1961 bewegten die Sowjetunion, auf den gewünschten Kurs der SED-Führung einzugehen.
In den knapp 90 Minuten wurde man Betrachter eines längst untergegangen Systems. Um "den Minister außer Dienst", wie Keßler immer wieder genannt wurde, und den "Generaloberst außer Dienst" wurde Starkult betrieben. Immer wieder brandet Applaus auf, wenn gegen die "Westmächte" polemisiert und dem Untergang der DDR nachgetrauert wurde. So ähnlich muss ein Parteitag der SED abgelaufen sein. Die Rhetorik, die man heute sonst nur noch aus Archiven kennt, lebt auf.
DDR "verraten und verkauft"
Streletz' Satz "kein Land des Warschauer Pakts wurde 1989 und 1990 so hinterhältig verraten und verkauft von Gorbatschow und Schewardnadse wie die DDR" löst lang anhaltenden Applaus beim Publik aus. Das Durchschnittsalter an diesem Abend liegt bei 70, vielleicht ein wenig älter. Es sind diese knapp fünf Prozent der deutschen Bevölkerung, die als "DDR-nostalgisches" Milieu bezeichnet werden, die an diesem frühen Abend zusammen kommen. Sie leben in ihrer eigenen Wirklichkeit.
Im Gedenken an die Mauertoten heißt es in der Buchbeschreibung "… dass es bei der 'Erinnerung' nicht um die 'Toten' und um die 'Mauer' geht, sondern um politisches Kalkül, um die Verdrängung von Mitschuld und Mitverantwortung des Westens." Nicht die Führung im Osten habe aus Willkür gehandelt, sondern "es blieb ihr, vom Westen genötigt, keine andere Chance zur Friedenssicherung."
Die Veranstaltung wird von Olaf Koppe um kurz nach 20 Uhr beendet. Dutzende Zuschauer strömen nach vorne und lassen sich begeistert das Buch signieren. Zwei Jugendliche schreiten mit Autorgrammkarten von Keßler und Streletz nach vorne. Sie holen sich die Unterschrift von zwei ranghohen Genossen, die Mitverantwortung für 137 Mauertote tragen.
Heinz Keßler, Fritz Streletz
"Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben"
ISBN 978-3-360-01825-0
224 Seiten
12,95 €
war Praktikant beim vorwärts (2011) und ist Mitglied der Bezirksvertretung Köln-Ehrenfeld.