Geschichte

Machtwechsel nach 16 Jahren Kohl: Wie Rot-Grün 1998 siegte

Die SPD wird in diesem Jahr 160 Jahre. Wir blicken zurück auf wichtige Ereignisse: Bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 erringt die SPD einen historischen Sieg. Gerhard Schröder wird Kanzler, erstmals regiert Rot-Grün.
von Lars Haferkamp · 5. Mai 2023
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16 lange Jahre Opposition hat die SPD hinter sich, als sich ihr im Jahr 1998 die Chance auf einen Machtwechsel im Bund bietet. Vier ihrer Kanzlerkandidaten waren zuvor an Bundeskanzler Kohl gescheitert: Hans-Jochen Vogel 1983, Johannes Rau 1987, Oskar Lafontaine 1990 und Rudolf Scharping 1994.

Und im Jahr 1998 ist zunächst noch unklar, wer für die SPD den fünften Versuch gegen den „Allzeitkanzler“ Kohl starten soll. Der von vielen SPD-Mandatsträger*innen favorisierte Parteivorsitzende Lafontaine oder der in allem Umfragen von den Wähler*innen bevorzugte Gerhard Schröder. Am 1. März dann bringt die Landtagswahl in Niedersachsen die Entscheidung. Ministerpräsident Schröder baut die absolute Mehrheit der SPD aus. Kurz nach Schließung der Wahllokale gratuliert ihm Lafontaine am Telefon – „Hallo, Kandidat!“ – zur Kanzlerkandidatur.

Niedersachsen entscheidet SPD-Kanzlerkandidatur

Damit hat die SPD eine wichtige Voraussetzung für einen Wahlerfolg geschaffen: Geschlossenheit. Das war wenige Jahre zuvor noch komplett anders. Die Zweifel in der Partei am 1994 gescheiterten Kanzlerkandidaten und Parteichef Scharping wuchsen immer mehr, so dass er auf dem Mannheimer Parteitag 1995 von Lafontaine gestürzt wurde. Seitdem schwebte die ungeklärte Kanzlerkandidatenfrage über der SPD. Die ist nun im März 1998 endlich geklärt. Schröder und Lafontaine betonen, an einem Strang zu ziehen, zwischen sie passe „kein Blatt Papier“.

Darauf setzt die SPD. Sie macht den Wähler*innen ein doppeltes Angebot: für die klassischen Anhänger*innen der Partei tritt SPD-Chef Lafontaine als künftiger Bundesminister an, für die Wähler*innen der „neuen Mitte“ Kanzlerkandidat Schröder, der auf Wahlplakaten als „Kanzler der Mitte“ firmiert. Die SPD verspricht einen „Politikwechsel für Deutschland“, der beides beinhalten soll: Schröder und Lafontaine, auf die Formel gebracht „Innovation und Gerechtigkeit“.

CDU diesmal mit Kanzler-Malus

Ein weiterer wichtiger Unterstützer für die SPD ist diesmal der CDU-Kanzler. Nach 16 Jahren Amtszeit will die Mehrheit der Wähler*innen nicht, dass daraus 20 Jahre werden. Denn genau das kündigt Kohl 1998 an: Er wolle bis 2002 im Amt bleiben und dann an Wolfgang Schäuble übergeben. Auch in der CDU sind viele davon alles andere als begeistert. In der Partei wird – mitten im Wahlkampf – immer wieder über die Nachfolge des Kanzlers gesprochen. So liegt Kohl in der Kanzler-Frage in allen Umfragen deutlich hinter Schröder, seine Werte liegen sogar hinter denen der eigenen Partei. Statt mit einem Kanzler-Bonus nach 16 Amtsjahren geht die Union mit einem Kanzler-Malus in die Wahl. Ein echtes Handicap.

Das weiß die SPD geschickt in ihrer Wahlkampagne zu nutzen. „Deutschland braucht einen neuen Kanzler“ plakatiert sie mit dem Konterfei Schröders. Und der verkündet: „Ich gebe Ihnen neun gute Gründe, SPD zu wählen. Der zehnte heißt Kohl.“ Die SPD präsentiert sogar ein Plakat mit dem Bild Kohls. Der Text dazu: „Ich habe fertig.“

Hauptproblem ist Massenarbeitslosigkeit

Die CDU dagegen plakatiert – an der Stimmung der Wähler*innen vorbei – ihren Kanzler mit dem Slogan „Weltklasse für Deutschland“. Aber in diesem Wahlkampf geht es nicht um Weltpolitik, es geht nicht einmal um Außenpolitik, es geht um die inneren Probleme Deutschlands. Das Problem Nr. 1 ist dabei die Massenarbeitslosigkeit, die seit Jahren steigt. Sie abzubauen, ist das wichtigste Ziel der SPD. Wie genau das geschehen soll? Mit einer umfassenden Modernisierung des Landes, bei der es allerdings – im Unterschied zur Union – gerecht zugehen soll. Den Zweifler*innen verspricht SPD-Kandidat Schröder: „Wir werden nicht alles anders machen. Aber vieles besser.“

Die Umfragen geben der SPD Rückenwind. Sie liegt meist vor der Union, mitunter aber nur knapp, mit einem Vorsprung von nur einem Prozent. Das liegt innerhalb der Fehlertoleranz der Meinungsforschungsinstitute. Es könnte also am Wahlabend auch auf den zweiten Platz hinter der Union hinauslaufen. Entsprechend groß ist die Spannung vor der Wahl. Die Bild-Zeitung titelt, es werde „gaaaanz knapp“.

Reicht es für rot-grüne Mehrheit?

Das gilt erst recht für die künftigen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag. Da Grüne und FDP in den Umfragen mit rund 6 Prozent nahe beieinander liegen und die PDS gute Chancen hat, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen, hätte Rot-Grün keine Mehrheit im Bundestag. Gelingt der Machtwechsel? Oder wird es am Ende nur ein halber?

Als am Nachmittag des 27. September die ersten Meldungen über Nachwahlbefragungen im Bonner Erich-Ollenhauer-Haus eintreffen, weicht die Anspannung fröhlichen Gesichtern. Der Vorsprung vor der Union scheint größer als erwartet. Doch sicher ist an diesem Wahlabend auch nach 18 Uhr noch lange nichts. Erst als in der Nacht das vorläufige amtliche Endergebnis vorliegt herrscht Klarheit.

Erleichterung in der Nacht

Die SPD hat um 4,5 Prozent zugelegt, die Union 6,3 Prozent verloren. Die SPD liegt so mit satten 5,8 Prozent vor CDU und CSU. Niemals zuvor und danach hatte sie einen so großen Vorsprung vor der Union. Rot-Grün hat zehn Sitze mehr im Bundestag als für die absolute Mehrheit nötig sind. Der Machtwechsel kann beginnen.

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