Lore Agnes: Wie sie vom Dienstmädchen zur SPD-Abgeordneten wurde
Ein Foto aus dem Jahr 1920 dokumentiert wie kein zweites den weiblichen Aufbruch in die erste demokratische deutsche Republik. Es zeigt Clara Zetkin, die — flankiert von zwei Freundinnen — ihren Stock schwingend auf den Reichstag zustrebt, so, als wollte sie sagen: „Aus dem Weg, Männer“. Zu ihrer Rechten wird Clara Zetkin von der USPD-Abgeordneten Mathilde Wurm gestützt, zur Linken von Lore Agnes, die ebenfalls zur USPD-Fraktion gehört. Sie ist eine von nur wenigen Arbeiterinnen im ersten, frei gewählten Reichstag.
Lore wird am 4. Juni 1876 als eines von vielen Kindern des Bergarbeiters Martin Benning und seiner Frau Laura in Bochum geboren und wächst in wirtschaftlich beengten Verhältnissen auf. Nach dem frühen Tod des Vaters muss sie bereits als 13-Jährige arbeiten und ihren Beitrag zum Familienunterhalt leisten. „Sie wurde Dienstmädchen und traf es schlecht, zwischen Herrschaft und Gesinde war eine tiefe Kluft“, erinnert sich ihre Freundin Marie Juchacz. „Lore musste oft weit über ihre jungen Kräfte arbeiten, und sie war einsam. Ihre einsamen Stunden im kalten Dachkämmerchen füllte sie mit Lesen aus.“ Dienstmädchen sind am Ende des 19. Jahrhunderts „Freiwild“ und unterliegen der „Gesindeordnung“, einer gesetzlich geregelten Form von Leibeigenschaft, die vor allem durch Pflichten gekennzeichnet ist.
„Eine sehr intelligente und redegewandte Frau“
1896 zieht Lore Benning nach Bochum zurück und heiratet den Schneidermeister Wilhelm August Herzig, von dem sie ein Kind erwartet. Bis 1905 ist Lore ausschließlich Mutter und Hausfrau. Dann ändert sich ihr Leben schlagartig. Sie lernt den Gewerkschafter Peter Agnes kennen und lieben, der als Redakteur des „Bochumer Volksblatt“ tätig ist. 1906 lässt sich Lore Herzig scheiden und zieht mit Peter Agnes nach Düsseldorf. Beide heiraten noch im selben Jahr. Während Peter hauptamtlich als Gewerkschaftssekretär arbeitet, engagiert sich Lore trotz ihrer Belastung als Mutter und Hausfrau beim Aufbau eines Verbandes für Hausangestellte. Dabei kommen ihr die eigenen Erfahrungen als Dienstmädchen zu Gute.
Unermüdlich wandert Lore Agnes durch das Düsseldorfer Umland, um Dienstmädchen in direkten Gesprächen für die Gewerkschaft zu werben und für die Sozialdemokratie. Mit Erfolg: In Düsseldorf verzeichnet die SPD viele Eintritte von jungen Frauen. Sogar der Reichsinnenminister wird auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht. 1912 schreibt ihm der Düsseldorfer Regierungspräsident Hertzen: „Der Grund für diese Erscheinungen ist wohl hauptsächlich, dass daselbst eine sehr intelligente und redegewandte Frau, Lore Agnes, an der Spitze der Bewegung steht.“
Sie begeistert flammenden Reden
1907, als Frauen noch nicht in politischen Parteien aktiv werden dürfen, wird Lore Agnes in Düsseldorf zur Vertrauensperson der sozialdemokratischen Frauenbewegung gewählt. Sie sieht sich in geistiger Verbundenheit mit Rosa Luxemburg und Clara Zetkin und unterstützt deren politische Linie auf dem linken Flügel der Partei. 1911 spricht Lore Agnes am „Internationalen Frauentag“ zum ersten Mal vor einer großen Menschenmenge, fordert das allgemeine Wahlrecht für Frauen und begeistert mit ihrer pointierten und flammenden Rhetorik. In der Düsseldorfer SPD ist sie bald als Rednerin und Agitatorin gesetzt.
Schon vor Beginn des Weltkrieges warnt die Pazifistin Lore Agnes vor den Gefahren, die auf Europa zukommen könnten und vor den möglichen Verwerfungen für die internationale Sozialdemokratie. Dass sich die sozialdemokratische Reichstagsfraktion mit großer Mehrheit für den Krieg ausspricht, trifft Lore Agnes schwer, intensiviert aber gleichzeitig ihren Einsatz gegen den Krieg. Nach einer Kundgebung, auf der sie vor allem Frauen gegen die Kriegsbesoffenheit aufbringt, wird Lore Agnes 1914 verhaftet und für mehrere Wochen inhaftiert. Im Jahr darauf wird ihr wegen Agitationstätigkeit der Prozess gemacht. Lore Agnes nutzt die Gerichtsbank als Tribüne und hält eine einstündige, flammende Rede, nach der sie schließlich freigesprochen wird.
Für die SPD bis 1933 im Reichstag
1917 schließt sich Lore Agnes der USPD an und reist ohne Ausweispapiere zur Internationalen Frauensitzung in Zürich. Nach ihrer Rückkehr wird sie einmal mehr inhaftiert. Das erhöht ihren Nimbus als unerschrockene Kämpferin. In der USPD wird sie Mitglied der Zentralen Leitung und 1919 nach der Durchsetzung des Frauenwahl beinahe zwangsläufig als Kandidatin für die Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung aufgestellt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen kandidiert Lore Agnes auf Platz 1 der USPD-Liste im Wahlkreis Düsseldorf und wird gewählt.
Obwohl sie eine ausgewiesene Linke ist, schließt sie sich nicht der Kommunistischen Partei an, sondern wird nach der Vereinigung des rechten Mehrheitsflügels der USPD mit der SPD im September 1922 Mitglied der nunmehr vereinigten Partei, die sie bis 1933 als Reichstagsabgeordnete vertritt. Nach der Machtübertragung an die Nazis wird sie am 5. März 1933 zum letzten Mal im Wahlkreis Düsseldorf-Ost direkt in den Reichstag gewählt.
Mitgründerin der Arbeiterwohlfahrt
Wie die meisten Parlamentarierinnen ist auch Lore Agnes vor allem sozialpolitisch aktiv. So setzt sie sich bereits 1919 für eine Stärkung der Jugendfürsorge ein, weil es vielen Familien auf Grund der wirtschaftlichen Lage schwer fällt, für eine angemessene Erziehung ihrer Kinder zu sorgen. Reichstagspräsident Paul Löbe bezeichnet Lore Agnes in seinen Erinnerungen väterlich herablassend als Beispiel dafür, „dass fast alle (…) weiblichen Abgeordneten echt frauliche, zum Teil mütterliche Züge aufwiesen und dass sie zumeist jenen Wirkungskreis suchten, der ihrer weiblichen Eigenart am meisten entsprach.“
Obwohl sie Mitglied der USPD ist, beteiligt sich Lore Agnes am 13. Dezember 1919 in Berlin mit Marie Juchacz und Louise Schröder an der Gründung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und wird in der Folge maßgeblich verantwortlich für den Aufbau und die Organisation der Düsseldorfer AWO.
Aktiv beim Wiederaufbau von SPD und AWO
Als die Nazis am 22. Juni 1933 die SPD verbieten, geht Lore Agnes wie viele Gleichgesinnte in den Untergrund, wird aber im Zuge der reichsweiten Verfolgungen als prominente Sozialdemokratin wenig später verhaftet. Nach einer schweren Erkrankung an der Gallenblase wird Lore Agnes mit einer offenen Wunde zwar entlassen, steht aber fortan unter Beobachtung. 1934 wird sie erneut für mehrere Monate inhaftiert, aber sie bleibt unbeugsam. „Freuden und Kummer hat sie still ertragen“, schreibt Marie Juchacz: „Ihr Lebensgefährte starb in einer Zeit, in der sie es notwendig gehabt hätte, sich an ihn lehnen zu können, ihren geliebten jüngsten Sohn musste sie in Hitlers Krieg hergeben.“
Nach der Zerschlagung Nazi-Deutschlands beteiligt sich die fast 70-jährige Lore Agnes in Düsseldorf am Wiederaufbau der AWO und der SPD und bleibt bis zu ihrem Tod am 9. Juni 1953 aktiv. Ihren letzten Auftritt hat Lore Agnes auf der zentralen Frauenkonferenz der Partei in Köln, wo sie schwer erkrankt. „So passt es ganz zu dieser Frau, dass sie in den Sielen starb“, schreibt Marie Juchacz in Würdigung der Lebensleistung einer außergewöhnlichen Sozialdemokratin.