Geschichte

Lebensretter der Arbeit

von Thomas Horsmann · 28. November 2013

Am 29. Novemer 1888 schlug in Berlin mit dem »Lehrkursus über Erste Hilfe« die Geburtsstunde des Arbeiter-Samariter-Bundes.

Es ist 11 Uhr morgens am 28. November 1884. Auf dem Gelände der Märkischen Eiswerke in Erkner am Flakensee östlich von Berlin soll eine 40 Meter lange Seitenwand einer neuen Lagerhalle fertiggestellt werden. Alles scheint gut zu laufen. Doch beim Aufsetzen der letzten Ziegel kippt die Mauer plötzlich nach innen und begräbt die Arbeiter unter sich. Drei Männer sterben, unter den zahlreichen Verletzten ist auch ein Cousin von Gustav Dietrich, einem der Gründerväter des Arbeiter-Samariter-Bundes. Für den Zimmermann ist dies ein Schlüsselerlebnis. Denn obwohl viele Helfer zur Stelle sind, weiß keiner, wie die Verletzten versorgt werden sollen. Das will Dietrich, der im Vorstand des Verbandes Deutscher Zimmerleute organisiert ist, ändern.

Die Lage der Arbeiterschaft im Deutschen Kaiserreich ist trostlos. Seit 1878 gilt das Sozialistengesetz, die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften sind verboten, ein Streikrecht gibt es nicht. Die Arbeiter sind rechtlos und der Willkür ihrer Arbeitgeber ausgeliefert. Sie leben im Elend, denn die Bezahlung ist gering und die Arbeitszeit beträgt über zehn Stunden am Tag. Zudem ist die harte Arbeit häufig auch noch gesundheitsgefährdend. Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften sind nicht bekannt. Deshalb kommt es immer wieder zu schweren Unfällen mit Toten und Verletzten. Das „Schlachtfeld der Arbeit“, wie es damals oft heißt, fordert jedes Jahr Zigtausend Tote.

Keine Hilfe von Arbeitgebern

Da von den Arbeitgebern oder vom Staat nicht viel zu erwarten ist, organisiert Dietrich zunächst medizinische Vorträge für die Arbeiter. Er tut sich dazu mit seinen Kollegen Wilhelm Zippke, Hermann Neumann, August Laubsch, Wilhelm Nittat und Joseph Schmidt zusammen. Die sechs bitten den Arzt Dr. Alfred Bernstein, entsprechende Vorträge zu halten, wozu dieser bereit ist. Am 18. März 1888 stellt Bernstein jedoch in einem dieser Vorträge fest: „Was nutzt es Euch, wenn ich Euch den Vortrag halte und Ihr könnt ihn nicht praktisch verwerten?“ Das ist in der Tat ein Problem, das erkennt auch Dietrich. Der schlägt deshalb vor, praktische Kurse abzuhalten, Kurse in denen die Arbeiter Erste Hilfe erlernen können. Dr. Bernstein ist auch dazu bereit.

Am 20. November 1888 erscheint im „Berliner Volksblatt“ und in der „Berliner Volkszeitung“ ein Aufruf für den ersten „Lehrkursus für Erste Hilfe bei Unglücksfällen“. Eingeladen sind „Zimmerleute, Maurer und Bauarbeiter, sowie alle Arbeiter, welche sich für die Sache interessieren“. Die Teilnehmer müssen einen Unkostenbeitrag von 25 Pfennig für Verbandsmaterial zahlen, das für die praktischen Übungen benötigt wird. Am 29. November 1888 beginnt der erste Kurs mit etwa hundert Teilnehmern im Berliner Lokal „Feuersteins Tunnel“ in der Alten Jakobstraße 75. Dieses Datum gilt seither als Gründungsdatum des Arbeiter-Samariter-Bundes.

Von Berlin ins ganze Land

Bis Ende März 1889 unterrichtet nun Dr. Bernstein alle 14 Tage abends nicht nur über Hygiene und die Organe des menschlichen Körpers. In praktischen Übungen lehrt er die Arbeiter das Reinigen von Wunden, das Stillen von Blutungen, das Anlegen von Verbänden und den Transport von Verletzten.

Nach dem erfolgreichen ersten Kurs gründen die Teilnehmer unter Führung von Dietrich und seinen Kollegen den Verein „Lehrkursus der Berliner Arbeiter zur Ersten Hilfe bei Unglücksfällen“. Am 21. Oktober 1889 beginnt der zweite Erste-Hilfe-Kurs, der bereits den Namen „Samariter-Kurs“ trägt. Die Idee setzt sich schnell durch. In ganz Deutschland entstehen nun nach Berliner Vorbild Erste-Hilfe-Gruppen von Arbeitern. 1896 gründet sich in Berlin die erste Sanitätsdienst-Gruppe mit dem Namen „Arbeiter-Samariter-Kolonne“. 1909 schließlich schließen sich Arbeiter-Samariter-Gruppen aus Berlin, Dresden, Meißen, Köln, Hamburg und Elberfeld zum Arbeiter-Samariter-Bund zusammen. Er ist heute eine der größten Rettungs- und Hilfsorganisationen in Deutschland.

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Thomas Horsmann

ist freier Journalist und Redakteur.

 

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