Geschichte

Kritisch soll er sein

Kritisch soll er sein, aber loyal, Argumente liefern, aber keine Hofberichterstattung, Position beziehen, aber unabhängig bleiben. Kurz: Vielleicht verlangt der ideale "vorwärts" die Quadratur des Kreises. Dadurch, dass sich der "vorwärts" in erster Linie an Mitglieder wendet, ist dies nur scheinbar einfacher geworden.
von Erhard Eppler · 16. Februar 2006
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Die Hoffnung, aus dem Zentralorgan der SPD könne einmal eine "linke Zeit" werden, sollten wir uns abgewöhnen. Heute bieten die großen Tageszeitungen so viel an Hintergrundberichten, Analysen und Dokumentation, dass etablierte Wochenzeitungen um ihre Existenz kämpfen müssen. Wer sich die Mühe macht, die "Süddeutsche Zeitung" samt ihrem Feuilleton gründlich zu lesen, findet in Wochenzeitungen selten Neues und noch seltener Besseres. Den "vorwärts", der außerhalb der Partei Zehntausende von Abonnenten findet, wird es wohl nicht geben.

2. Eine Parteizeitung muss sich fragen, was die Mitglieder - und vielleicht auch Leute, die dies werden wollen - dort suchen. Eine moderne Partei funktioniert ja nicht mehr so, dass da irgendein Vorsitzender oder ein Vorstand etwas beschließt, was man dann dem Parteivolk kundtun muss, damit es weiß, was Sache ist. Die Mitglieder erwarten keinen Verkündigungs-Journalismus. Sie wollen nicht wissen, was sie zu denken haben. Sie wollen auch keine Hofberichterstattung. Aber sie wollen wissen, was sich in der Partei tut, wer wofür zuständig ist, wer Landesvorsitzender oder Oberbürgermeisterin geworden ist. Es interessiert sie auch, warum die Bundestagsfraktion für einen Mazedonien-Einsatz der Bundeswehr ist, warum der Finanzminister bei Firmenverkäufen keine Steuer mehr will, warum, wenn sich der Bundesrat nicht auf ein Dosenpfand einigt, etwas Rechtskraft erhält, was der Umweltminister Töpfer vor vielen Jahren ausgeheckt hat.

Mitglieder wollen besser informiert sein als andere, sie wollen verstehen, was eine sozialdemokratisch geführte Regierung tut, sie wollen Argumente für sich und für das Gespräch in der Arbeitspause. Von einem Parteimit-glied erwartet man eben mehr als von jemandem, der gelegentlich mit halbem Ohr etwas von der Tagesschau abbekommt oder frühmorgens einen kurzen Blick in die konservative Heimatzeitung wirft.

Der "vorwärts" muss sich in das Mitglied einfühlen können, dass im Ge-sangverein nach der Singstunde hören muss, die Homo-Lebenspartnerschaften verstießen gegen das Grundgesetz, die Ökosteuer sei pure Abzockerei und die Öko-Landwirtschaft zahle sich niemals aus.

Wenn die Redaktion des "vorwärts" meint, was da an Erläuterungen aus dem Parteivorstand oder einem Ministerium kommt, reiche nicht aus, dann muss sie die Chance haben, die Verantworlichen zur Rede zu stellen. Der "vorwärts" muss Interviews bieten können, die nicht weniger ausführlich - und nicht weniger kritisch - sind als solche in der "Frankfurter Allgemeinen".

Eine Zeitung wie der "vorwärts" hat wohl auch die Aufgabe, in den Konflikten und Entscheidungen des All-tags herauszufinden, warum Sozialde-mokraten so und nicht anders argumentieren und entscheiden. Sie muss der Verbindung nachspüren zwischen den kleinen Schritten in der polititischen Praxis und dem Programm der Partei. Sie muss auch beim kleinen Schritt die Richtung erkennbar machen. Und wenn dies nicht gelingt, dann darf auch eine Parteizeitung die Erkennbar-keit der Richtung einfordern, notfalls ziemlich hartnäckig.

3. Damit wären wir bei der kritischen Funktion des "vorwärts". Jede Zeitung, auch eine Parteizeitung, hat eine kritische Funktion. Sicher, der spritzig-polemische Leitartikel, der aus dem sozialdemokratischen Spitzenpolitiker den inkompetenten und überdies lächerlichen Markt- schreier machen will, den muss der "vorwärts" sich verkneifen. Das besorgen andere, und dies oft ohne Sachverstand und publizistische Qualität. Aber der "vorwärts" kann sehr wohl deutlich machen, was er von einem sozialdemokratischen Minister erwartet, wo er seine Erwartungen erfüllt sieht und wo (noch) nicht. Wenn ein solcher Minister sich ungerecht behandelt fühlt, soll er, von Redakteuren befragt, die Gelegen-heit bekommen, seine Sicht der Dinge darzulegen. Aber die Redaktion braucht dem nicht zuzustimmen.

Der "vorwärts" darf sehr wohl auch Themen abhandeln, von denen die Redaktion meint, sie seien in der Politik der Partei unterbelichtet. Das können auch neue Themen sein, die noch kaum wahrgenommen werden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gehört dazu das, was ich die "Privatisierung der Gewalt" nenne. Dieser weltweite Trend wird uns noch viel zu schaffen machen, und er wird uns in fast allen Feldern der Politik vor neue Aufgaben stellen. Der "vorwärts" darf also ruhig auch neue Furchen pflügen. Schließlich fällt einem politischen Profi nach einem 16-Stunden-Tag nicht mehr allzu viel ein, auch wenn er Sozialdemokrat ist.

Der "vorwärts" darf und sollte die Meinungsbildung in der Partei anregen, fördern, vorantreiben, ja organisieren. Das kann sehr wohl dadurch geschehen, daß zuerst einmal verschiedene Meinungen zu Wort kommen, vielleicht mehrere Ausgaben hintereinander. Es muss selbstverständlich sein, daß die Exponenten solcher Meinungen sich dem "vorwärts" dazu zur Verfügung stellen. Aber natürlich ist es den Redakteuren nicht verwehrt, solche Mei- nungen zusammenzufassen, sie handhabbar und damit entscheidungsreif zu machen.

Der "vorwärts" sollte, noch mehr als bisher, Diskussionsforum werden. Dabei meine ich nicht nur die klassischen Leserbriefe. Ich könnte mir vorstellen, dass in jeder Ausgabe eine Seite reserviert bleibt für Zuschriften zu einem bestimmten, vorher festgelegten Thema. Wahrscheinlich kämen dann mehr Beiträge, als die eine Seite fassen kann. Die Redaktion könnte so auswählen, dass ein korrektes - und für die Führungsgremien wichtiges Meinungsbild - entsteht.

4. Ein Beispiel: Die SPD führt wieder einmal eine Debatte für ein Grundsatzprogramm. Wollte man im Jahr 2001 die Mitglieder befragen, worum es da in der Sache geht und was dabei bisher herausgekommen sei, so wäre wohl wenig Präzises zu erfahren. Natürlich kann der "vorwärts" sich nicht die Kompetenzen der Programmkommission anmaßen. Aber er könnte sehr wohl darauf dringen, dass erst einmal die richtigen Fragen gestellt werden: Wozu machen wir ein Grundsatzprogramm? Wollen wir uns wieder einmal jahrelang plagen, um dann ein Programm zu verabschieden und es sofort zu vergessen? Was am Berliner Programm ist revisionsbedürf-tig, was nicht? Was ist die politische Funktion des neuen Programms? Auf welche Fragen, die seit 1989 neu aufgetaucht sind, muss es Antwort geben? Ist es wirklich die Globalisierung? Oder nur die neoliberale Dominanz in der Interpretation der Globalisierung?

Anders als vor 125 Jahren werden die Mitglieder der SPD heute stündlich berieselt von Medien aller Art. Wollte der "vorwärts" da mitrieseln, er wäre rasch am Ende. Die SPD ist eine politische Partei, vielleicht die politisch-ste. Also muss der "vorwärts" eine politische Zeitung sein. Aber eben nicht für Voyeure, sondern für Mitspieler, für Menschen, die sich mit verantwortlich fühlen - sonst wären sie der Partei nicht beigetreten. Das Mit-Denken, das Mit-Diskutieren, das Mit-Verantworten soll der "vorwärts" fördern. In der Bundestagsfraktion muss ganz selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass, wer in eine Kontroverse einsteigt, weiß, was im "vorwärts" gestanden hat. Dabei bleibt dann nicht aus, daß der eine oder die andere sich gelegentlich über den "vorwärts" ärgert. Es müssen ja nicht immer dieselben sein.

Erhard Eppler (Quelle: vorwärts 10/2001)

Autor*in
Erhard Eppler

war von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

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