Wer heute 20 Jahre alt oder jünger ist, hat das zweistaatliche Deutschland aus eigenem Erleben nicht kennen gelernt. Er/sie ist auf das Erzählen und Berichten von Eltern und Großeltern sowie
anderen älteren Bekannten und Verwandten angewiesen. Allerdings wird deren Vergangenheits-Bild von Subjektivem, zufällig Erlebtem geprägt sein und vermutlich Einseitigkeiten aufweisen.
Es gibt das recht gute Sozialkundebuch "betrifft: Sozialkunde", das ein wenig Abhilfe zu schaffen vermag. Doch hier ist der entsprechende Abschnitt recht knapp gehalten, soll doch vor allem
der soziale Alltag im heutigen Deutschland in Bezug zum Vergangenen dargestellt werden.
Zur Rolle von Revolutionen und Revolutionären
Zweifellos: Es kommt darauf an, sich im Heute zurechtzufinden und es aktiv mitzugestalten. Doch genau dafür ist es notwendig, zur eigenen Geschichte Position beziehen zu können.
Neuberts Ansatz ist insofern etwas Neues, als er die Revolution von 1989/1990 nicht nur auf ihre spezifische Leistung hin befragt, sondern das Bild etwas größer werden lässt. Er
hinterfragt, was Revolutionen überhaupt leisten können, untersucht, was Übergangsstatus hatte (Runde Tische), was demokratisch wann legitimiert war und wann eben nicht mehr. Vor allem aber will
er mit Mythen und Überbewertungen aufräumen und das Handeln geschichtlicher Akteure in den Kontext der Zeit stellen. Dazu gehört auch, dass er Michal Gorbatschow nicht vordergründig als den
Heilsbringer sehen will (wie es zu damaliger Zeit viele taten), sondern als einen, der ebenfalls von der Zeit getrieben wurde, seinen Part zu leisten.
Interesse an der DDR
Der Staat DDR ist vor beinahe 20 Jahren verschwunden. Er ging gemeinsam mit dem ganzen sozialistischen System unter. Die Frage nach Erhaltenswertem stellte sich anfangs wenig, genoss man
doch die Befreiung aus alten Zwängen, Reisefreiheit vor allem, Warenüberfluss, Wahlmöglichkeiten. Vom richtigen Leben im Falschen war und ist jedoch die Rede, wo der Wert eigenen Lebens behauptet
werden soll. Zusammen mit globalen Problemen, als ungerecht empfundenen sozialem Auseinanderdriften, Bankenkrise und anderem entstehen immer wieder Impulse zum Nachdenken über Vergangenes, die
sich auch an Illusionen und Idolen festmachen können. Der Marxismus kommt verschiedentlich wieder in Mode. Nicht als Dogma wie ehedem, doch als eine philosophische Richtung unter anderen, die im
Nachdenken um die Erreichbarkeit sozialer Gerechtigkeit entstanden.
Auch vor diesem Hintergrund ist es wichtig, genau zu schauen, was wo warum geschah. Die tagebuchartige Auflistung der Vorgänge in den gesellschaftlichen Umbruchprozessen, die zur Auflösung
der DDR führten, ist hierzu ein Baustein.
Nicht aus der Ich-Perspektive
Der Begriff "tagebuchartig" ist dabei mit einer Einschränkung zu versehen: Es wird nicht aus der Ich-Perspektive berichtet. Diese erschließt sich allein aus Sicht und Einblick in die Dinge.
Vermutlich wäre die Lektüre leichter gewesen, wenn eigene Erlebnisse des Verfassers mit eingeflossen wären. Doch das ist nicht die Ausrichtung des Buches. Minutiös werden darin die Ereignisse der
Jahre 1989/1990 festgehalten. Details machen es lebendig und anschaulich. So entstand ein vielseitiger Geschichtsband, der die Wendejahre neu ins Interesse rückt.
Zum Autor
Der 1940 in Thüringen geborene, in Erfurt und Berlin lebende Verfasser kommt aus der kirchlichen Bürgerrechtsbewegung in der DDR und gehörte zu den Gründern des Demokratischen Aufbruchs.
Von 1997 bis 2005 Abteilungsleiter Bildung und Forschung bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen der ehemaligen DDR hat sich der ehemalige politisch engagierte Pfarrer als
Geschichtswissenschaftler den Jahren 1989 und 1990 zugewandt.
Dorle Gelbhaar
Ehrhart Neubert "Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/ 90", Piper Verlag, München Zürich 2008, 520 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-492-05133-2
ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.