Es war eine der emotionalsten Debatten, die der Deutsche Bundestag je erlebt hatte. Die Menschen klebten an diesem 1. Oktober vor 30 Jahren vor den Radios oder Fernsehapparaten.
Viele hatten Tränen in den Augen, auch Tränen der Wut, - und das galt auch für Bürger, die nicht unbedingt zu Helmut Schmidts Fangemeinde zählten. Denn der Bundeskanzler hielt seine Abschiedsrede mitten in der Legislaturperiode, abgewählt nicht vom Volk, sondern vom Koalitionspartner FDP.
Misstrauensvotum nach 13 Jahren Koalition
Es war der bis heute einzige Kanzlersturz in der Nachkriegsgeschichte und für die tapfere Liberale Hildegard Hamm-Brücher hatte dieser Vorgang „das Odium des verletzten demokratischen Anstands“. Wie eine Reihe von anderen FDP-Abgeordneten weigerte sie sich, Helmut Kohl auf diese Art zum Kanzler zu wählen. Dennoch endete an diesem Tag nach dreizehn gemeinsamen Jahren die sozialliberale Koalition durch ein so genanntes konstruktives Misstrauensvotum. Helmut Schmidt nutzte diesen Tag für eine temperamentvolle und gnadenlose Abrechnung mit dem treulos gewordenen Koalitionspartner:
„Mit meinem Namen auch auf ihren Wahlplakaten hat die FDP im Oktober 1980 ein sehr gutes Wahlergebnis erzielt. Und unmittelbar nach der Wahl haben die Parteivorsitzenden von SPD und FDP in einer gemeinsamen Verlautbarung den Willen ausdrücklich bekräftigt zum Zusammenwirken und zur gemeinsamen Verantwortung für Frieden und sozialen Fortschritt für die kommenden vier Jahre.“
Abrechnung mit Genscher
Noch am Wahlabend im Herbst 1980 hatte der FDP-Vorsitzende und Außenminister Hans-Dietrich Genscher zufrieden festgestellt: „Das ist ein guter Startschuss für die nächsten vier Jahre! Zwei Jahre später schon war er der Regisseur des Koalitionsbruchs. Klaus Bölling, Sprecher der Regierung Schmidt, hat in jenen Wochen vor dem Ende ein später veröffentlichtes Tagebuch geführt und Anfang September 1982 notiert: „Genscher arbeitet seit langen Monaten auf Rechnung von Helmut Kohl.“ Aus seiner Verachtung für den damaligen und späteren Außenminister machte er in den Aufzeichnungen keinen Hehl. Er nannte Genscher einen „heillosen Advokaten, der auch am schönsten Sommertag argwöhnt, dass gleich ein kalter Regen niedergehen kann.“
Liberales Kalkül
Mit dem Bettenwechsel mitten in der Legislaturperiode wollte die FDP sich das Überleben sichern. Zwar genoss der SPD-Kanzler Anerkennung und Respekt bis tief in konservative Kreise hinein, doch die SPD war zur damaligen Zeit eine tief gespaltene Partei. Und der kleine Partner war von der Furcht getrieben, bei den Wahlen 1984 zusammen mit der SPD unterzugehen. Um das zu verhindern, waren Genscher und Lambsdorff bereit, einen hohen Preis zu zahlen: Ansehensverlust durch das Stigma der Königsmörder, Neuauflage des Images als „Umfallerpartei“, über Jahrzehnte keine Alternative zur Union als Koalitionspartner, Verlust des damals noch starken, kreativen linksliberalen Flügels. Ein Exodus von Parteimitgliedern, die das Verhalten ihrer Führung unanständig fanden. Dies alles nahmen die beiden Rädelsführer in Kauf, um sich ein weiteres Mitregieren im Bund zu sichern.
Kühl kalkulierend setzten sie in den Wochen vor dem endgültigen Bruch darauf, den Kanzler und die SPD mit ständigen Nadelstichen so zu quälen, dass die Regierung von sich aus entnervt das Handtuch werfen würde – für die FDP wäre das die elegante Lösung gewesen, doch die SPD spielte nicht mit.
FDP entwickelt sich zur Partei der Besserverdienenden
FDP provoziert mit Eines der Instrumente war das später so genannte „Scheidungspapier“ des Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff. Es trug den nüchternen Titel „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.“ Gespart werden sollte vor allem bei den Schwächsten durch Absenken des Arbeitslosengeldes auf 50 Prozent und Begrenzung des Bezugs auf ein Jahr, durch Karenztage im Krankheitsfall, durch Streichung des Schüler-Bafögs, durch Erhöhung der Mehrwertsteuer und vieles mehr, was besonders Familien und Bezieher niedriger Einkommen treffen würde. Für Unternehmen und den wohlhabenden Teil der Bevölkerung sollte es dagegen Steuererleichterungen geben. Da zeigte sich schon die neue „Partei der Besserverdienenden“.
Es muss dem Grafen klar gewesen sein, dass dies mit Gewerkschaften und SPD nicht zu machen wäre. Folgerichtig entließ Helmut Schmidt am 17. September, zwei Wochen vor seiner Abwahl im Bundestag, die vier FDP-Minister aus seinem Kabinett. Seine Begründung: „Die Denkschrift will in der Tat eine Wende, und zwar eine Abwendung vom demokratischen Sozialstaat und eine Hinwendung zur Ellenbogengesellschaft. …Offenbar soll die Denkschrift als Wegweiser dienen zu anderen Mehrheiten.“
Streit aber gab es zwischen SPD und FDP nicht nur wegen der Wirtschaftspolitik. Die Gemeinsamkeiten waren einfach verbraucht nach 13 Jahren alles in allem erfolgreichen Regierens. In der SPD-Bundestagsfraktion wuchs mit den Schwierigkeiten die Sehnsucht nach dem bequemeren Leben in der Opposition. Und dies nicht nur wegen der ständigen Reibereien mit dem kleinen Koalitionspartner. Die Auseinandersetzungen um den von Helmut Schmidt forcierten Nato-Doppelbeschluss hatten Partei und Fraktion gespalten. Ein großer Teil der SPD fühlte sich der Friedensbewegung nahe. Dass mit immer mehr immer gefährlicheren Waffen im dicht besiedelten Mitteleuropa der Frieden gesichert werden könne, leuchtete immer weniger Menschen ein. Doch die Friedensbewegung wurde darüber hinaus zu einem Sammelbecken der Unzufriedenen.
Kanzlersturz durch Genscherismus
Die Gewerkschaften machten mobil gegen die auch von der Regierung Schmidt geplanten – und vergleichsweise sanften – Einschnitte in das soziale Netz. Mit dem Erstarken der Friedens-, der Umwelt- und der Frauenbewegung wuchs die grüne Bewegung zu einer ernst zu nehmenden Partei heran, für viele vor allem junge Leute eine Alternative zur SPD. Klaus Bölling hat die aus vielen Gründen schwierige Zeit ein Vierteljahrhundert später so bewertet: „Ohne das Vertrauen einer Parlamentsfraktion kann ein Kanzler nicht mehr effektiv handeln. Er ist gelähmt….Und wenn die Partei ihren Kanzler bei aller Bewunderung, die ein Teil der Partei für ihn gehabt hat, sagt: so nicht mehr, Helmut, dann ist das Ende da.“
Doch all die sachlichen und atmosphärischen Störungen wären bei allseitigem guten Willen vermutlich lösbar gewesen. Die FDP aber hatte keine Lust mehr und entschied sich aus Angst vor dem Tod für den Kanzlersturz. Neuwahlen, die sauberste aber für die Liberalen gefährlichste Lösung, lehnten FDP und CDU natürlich ab. Am Tage von Helmut Schmidts Abwahl sagte deshalb Antje Huber, bis Frühjahr 1982 Familienministerin, in die Mikrophone der Journalisten: „Wir sind am Genscherismus gestorben, nicht an Haushaltsschwierigkeiten.“
FDP verliert ein Drittel ihrer Mitglieder
Und wie ging es weiter nach Vollzug der vom neuen Kanzler Helmut Kohl versprochenen „geistig-moralischen Wende“? Wirtschaftsminister Lambsdorff, verurteilt wegen Steuerhinterziehung, musste seinen Hut nehmen. Flick- und andere Spendenaffären hielten das Land in Atem. 1989 schon schien Kohl am Ende zu sein, Rebellen aus den eigenen Reihen wollten ihn stürzen. Da rettete ihn der Fall des Eisernen Vorhangs zwischen West- und Osteuropa. Sein politisches Leben aber endete so wie seine Kanzlerschaft begonnen hatte: Mit einer unsäglichen Spendenaffäre, von der sich seine Partei lange Zeit nicht erholt hat.
Die FDP aber hat den Verlust ihres linksliberalen Flügels nie verkraftet. Etwa ein Drittel aller Mitglieder gaben in der Zeit nach dem Koalitionswechsel das Parteibuch zurück. Prominente Liberale in politischen Spitzenfunktionen wie Ingrid Matthäus-Maier, Günter Verheugen und viele andere verließen die Partei und wechselten zur SPD. Andere wie Hildegard Hamm-Brücher, Gerhart Baum oder Burkhard Hirsch flüchteten in die innere Emigration.
Und Helmut Schmidt? Wäre er 30 Jahre jünger, so hat der einstige „Zeit“-Chefredakteur Theo Sommer einmal gesagt, „dann würden ihn wohl bei einer Direktwahl 80 Prozent der Bürger zum Kanzler wählen.“ Seine Karriere als beliebtester deutscher Politiker begann mit dem Ende seines aktiven politischen Lebens.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.