Als Willy Brandt 1969 seine erste Regierungserklärung abgab, hatte er es mit zwei grundverschiedenen Oppositionen zu tun. Da war die Unionsfraktion, die zum ersten Mal seit Gründung der Republik nicht den Kanzler stellte. Und da war die außerparlamentarische Opposition, die noch ein Jahr zuvor die Notstandsgesetze mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 gleichgesetzt hatte. An sie war Brandts Ankündigung gerichtet, unsere Demokratie sei nicht am Ende: „Wir fangen erst richtig an!“ Tatsächlich geschah Unerhörtes:
Mitten im Kalten Krieg machte sich die Bundesrepublik auf, diesen Kalten Krieg zu entschärfen. Innenpolitisch jagte eine Reform die andere. Die IG Metall hatte 1972 zu einer Tagung über „Lebensqualität“ nach Oberhausen eingeladen. Alles, was 2012 in einer Enquete-Kommission des Bundestages zum Verhältnis von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität verhandelt wird, war damals schon Thema. Auf dem Dortmunder Wahlparteitag 1972 hat die SPD sogar eine eigene Definition von Lebensqualität vorgestellt. Seit Denis Meadows 1972 in seinem Buch über „die Grenzen des Wachstums“ begründet hatte, dass ein „Weiter so“ brandgefährlich wäre, war die SPD die Partei, in der nun gefragt wurde, wie es dann weitergehen könnte.
Lange Zeit war nicht klar, ob sich die Regierung Brandt nicht doch zuviel zugetraut hatte. Immer wieder verließ ein Abgeordneter der SPD oder der FDP seine Fraktion. Rainer Barzel wagte das konstruktive Misstrauensvotum – und verlor. Vor der vorgezogenen Neuwahl des Bundestages sah es lange so aus, als ob es der Union gelingen könne, alle neuen Ansätze zunichte zu machen. Wenige Wochen vor der Wahl wendete sich das Blatt. Willy Brandt konnte den größten Wahlsieg in der Geschichte der Partei einfahren.
Bis die zweite Regierung Brandt in die Gänge kam, dauerte es länger als erwartet. Dann kam 1973 die Ölpreiskrise. Als das Fass Rohöl fünf Dollar kostete, jammerten wir über die Verdoppelung des Ölpreises, später über die Verfünffachung. Heute leben wir mit dem Fünfzigfachen.
War eine neue Energiepolitik nötig? Nur wenige plädierten dafür, und Willy Brandt hörte aufmerksam zu. Als dann die ÖTV ihre zweistelligen Forderungen durchsetzen konnte, wurde klar, dass hier in einer neuen, kargeren Epoche etwas geschehen war, was allenfalls im Wirtschaftsaufschwung zwei Jahre zuvor hinnehmbar gewesen wäre. Brandt fühlte sich gedemütigt, aber er wies keinen neuen Weg.
Der Schock des Brandt-Rücktritts
Im Mai 1974 kam Brandts Rücktritt, für viele ein Schock. Ihm folgte ein Politiker, der sich als Krisenmanager bewährt hatte. Helmut Schmidt war, anders als Brandt, gelernter Ökonom. In seiner Regierungserklärung kam das Wort Reform kaum mehr vor. Er wollte sein Land unbeschädigt durch die Wirtschaftsflaute steuern. Er tat es durch ein – kreditfinanziertes – Konjunkturprogramm. Als dann gegen Ende des Jahrzehnts der zweite große Preisschub die Weltwirtschaft belastete, wollte und konnte der Kanzler nicht mehr auf dieselbe Weise antworten, zumal sein Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff (FDP) sich sperrte.
In der Außenpolitik setzte Schmidt die Entspannungspolitik fort. Es ging darum, das Erreichte zu sichern, die Zweifler im Westen zu beruhigen.
Waren die frühen Siebzigerjahre solche des Aufbruchs und des Umbruchs, so legte die Regierung Schmidt Wert auf „pragmatisches“ Handeln. Zwar hatte sich auch Brandt als Pragmatiker verstanden. Aber jetzt bedeutete „pragmatisch“, dass hohes Wirtschaftswachstum wieder zum Ziel der Politik wurde und dass vieles, was zwischen Oberhausen und Dortmund die Partei beschäftigt hatte, lächelnd beiseite geschoben wurde. Für die unaufhaltsam fortschreitende Ökologiediskussion war da kein Platz mehr, was die Parteigründung der Grünen zumindest beschleunigt hat.
Dass sich die SPD gegen Ende des Jahrzehnts immer mehr polarisierte, war vor allem Folge des Raketenstreits um den NATO-Doppelbeschluss. Beide Seiten hatten ihre Argumente. Im Grunde war der „Doppelbeschluss“ vernünftig. Warum sollten wir dem Kreml nicht signalisieren: Die Pershing II werden nur stationiert, wenn wir uns vorher in Verhandlungen nicht einig werden? Dieses Rezept hätte Erfolg haben können, wäre nicht einem neuen US-Präsidenten der Abbau der sowjetischen Raketen weit weniger wichtig gewesen als der Aufbau amerikanischer Raketen, die von deutschem Territorium aus die Zentren der anderen Weltmacht treffen konnten.
Auch wenn die Siebzigerjahre, gerade für die SPD, alles andere als eine Einheit waren, spricht einiges dafür, von einem sozialdemokratischen Jahrzehnt zu sprechen. In der SPD, und nur dort, wurde diskutiert und oft auch entschieden, was auf der politischen Tagesordnung stand. Sogar die Atomdiskussion in der SPD war keineswegs vergeblich. Heute ist vieles von dem in der Gesamtgesellschaft angekommen, was 1972 die Führungsgremien der Partei beschäftigt hat. Wenn es eine Volkspartei auszeichnet, dass sie aufnimmt und in Politik übersetzt, was die Gesellschaft bewegt, dann war die SPD in den Siebzigerjahren eine vorbildliche Volkspartei. Die einzige.
Buchtipp
Das Sozialdemokratische Jahrzehnt
Von der Reformeuphorie zur Neuen Unübersichtlichkeit.
Die SPD 1969-1982
Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2011
819 Seiten, 48 Euro
ISBN 978-3-8012-5035-5