Vor fast einem halben Jahrhundert, 1965, schrieb Günter Grass sein berühmtes Gedicht mit dem Ratschlag zur Wahl. Und obwohl er schon 1992, als die SPD dem Asylkompromiss zustimmte, aus der Partei austrat, engagierte sich der inzwischen 83-Jährige dennoch immer wieder in den Wahlkämpfen für die Sozialdemokratie. So trat er am Sonntag im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg mit dem SPD-Spitzenkandidaten Olaf Scholz auf.
Begegnung mit Willy Brandt
Zur Einstimmung las der Schriftsteller zwei Passagen aus seinem aktuellen Buch "Grimms Wörter", in der zweiten schildert er - passend zum Anlass seiner Lesung - seine erste Begegnung mit Willy Brandt, "immerhin eine Art Hoffnungsträger in trüber Zeit". Seine Politisierung dagegen hatte, wie er vortrug, einen anderen Anlass: "Mich aber hatte eine Rede des Bundeskanzlers Konrad Adenauer, gehalten in Regensburg, in der er seinen Gegenkandidaten als uneheliches Kind verlästerte und dessen Überleben als Emigrant in Verruf zu bringen versucht hatte, aufs politische Gleis gebracht." Amüsant beschreibt er das Treffen des damaligen Berliner Regierenden Bürgermeisters Brandt und Egon Bahrs mit einem guten Dutzend Schriftstellern der legendären Gruppe 47 um deren "Leiter und Herbergsvater" Hans Werner Richter im Schöneberger Rathaus. Seine Teilnahme an diesem Gespräch hatte Grass erst gegen den Widerstand Richters durchsetzen müssen. Der hatte befunden, Grass sei zu anarchistisch und nach dem Erscheinen seines Romans "Die Blechtrommel" als Bürgerschreck zu berüchtigt.
Gelernter Sozialdemokrat
Gleichwohl war der "Bürgerschreck" der einzige, der sich anschließend bereit erklärte, "mit kleinen, aber auch längeren Beiträgen des Kandidaten Reden zu bereichern", und so kam Günter Grass zu seinem ersten Wahlkampfeinsatz für die Sozialdemokratie im Büro Egon Bahrs. "Das hatte Folgen: ich wurde zum gelernten Sozialdemokraten. Was heißt, ich kam nie an, suchte kein Endziel, bleib unterwegs, bin es immer noch …"
Mehr bürgerliches Engagement tut not
Im Gespräch mit Olaf Scholz griffen beide noch einmal das Thema des bürgerlichen Engagements auf. Grass wünscht sich, dass nicht nur Schriftsteller, sondern auch Professoren zum Beispiel sich stärker einmischen in den gesellschaftlichen Diskurs, wie es etwa in der Debatte um den Bildungsnotstand zu Beginn der 60er Jahre der Fall gewesen sei. Im Blick auf die aktuellen Ereignisse in Ägypten betonte Grass, die Ägypter hätten ein Recht darauf, ihr eigenes Verständnis von Freiheit und Demokratie umzusetzen. "Hört mit der Bevormundung auf!" Ihn grause es bei der Vorstellung, "dass sie Silvio Berlusconi als europäischen Berater für Ägypten präsentieren".
Pragmatismus und Visionen
Ob in der Politik eine Verbindung von Pragmatismus und Visionen gelingen könnte, wollte Olaf Scholz wissen. Willy Brandt konnte das verbinden, zeigte sich Grass überzeugt. Aber es gehöre Mut dazu, so etwa, als Brandt schon 1961 den "blauen Himmel über der Ruhr" zum Wahlkampfthema machte, als Umweltschutz noch ganz klein geschrieben wurde. Pragmatismus sei zu Unrecht in Verruf geraten, aber Politik müsse auch über die Legislaturperiode hinaus denken.
Engagement hält jung
Als Olaf Scholz zum Abschied nocheinmal die Bürger zum Engagement in der Gesellschaft aufforderte, Grass habe das ein Leben lang getan, rief der 83-Jährige augenzwinkernd seinem jubelnden Publikum zu: "Es hält jung! Das können sie in der Apothekenumschau nachlesen."
ist Mitarbeiter der vorwärts-Redaktion, Geschäftsführer a. D. des vorwärts-Verlags und ehemaliger Landesgeschäftsführer der SPD Hamburg.