Geschichte

Historie: Die komplizierte Beziehung zwischen SPD und vorwärts

In den 1970er Jahren will Vorwärts-Chefredakteur Gerhard E. Gründler ein Blatt machen, das so lebendig ist wie die Partei selbst. Eine ambitionierte Aufgabe, die am Ende scheitert.
von Claus Lutterbeck · 17. Oktober 2016
Die Redaktion des vorwärts im Jahr 1971
Die Redaktion des vorwärts im Jahr 1971

Es ist wohl ein ­„Abenteuer“ zu versuchen, „neben der SPD ihre Zeitung zu machen“, schreibt er 25 Jahre später in seinen Erinnerungen „Einmal vorwärts und zurück.“ Viereinhalb Jahre lang – von 1971 bis 1976 – hat Gerhard E. ­Gründler versucht, aus dem „Vorwärts“ ein Blatt zu machen, das so lebendig ist wie die Partei selbst. Kurz vor dem 100. Vorwärts-Geburtstag schmeißt er ernüchtert hin – das Abenteuer, den Ideenreichtum und die intellektuellen Kontroversen der Sozialdemokratie in einem Wochenblatt zu spiegeln, ist ­gescheitert.

Brandt und Wehner: Hoffnungsträger der vorwärts-Journalisten

Gründler, der vom „Stern“ kommt, ist 41 Jahre alt, als er im August 1971 die Chefredaktion des siechenden „Vorwärts“ übernimmt. Er ist voller Hoffnung, denn durch Bonn weht damals frischer Wind. Als Kanzler regiert ein Mann, der für Pressefreiheit steht, der Journalist Willy Brandt. Und der mächtige Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner, Herausgeber des Wochenblattes, gibt im Handbuch des Bundestages als Beruf ebenfalls „Journalist“ an. Beide sind der Meinung, ein „Vorwärts“, der an „langer Leine“ läuft, stünde einer großen Volkspartei gut zu Gesicht, die „mehr Demokratie wagen“ will.

Politisch ist das Blatt damals bedeutungslos – der „Vorwärts“ tut niemand wohl und niemandem weh. Es gibt ihn halt, weil er so alt ist. Aber genau darin sieht Gründler seine Chance: Warum soll er weiterhin Hofberichte abdrucken, die dem Ansehen des Blattes schaden, ohne das Ansehen der Partei zu vermehren? Er, der seit 1957 der SPD angehört, wird anfangs darin von Brandt („Man liest wieder Vorwärts!“) und Wehner unterstützt, der 1971 in einem Interview mit dem „Vorwärts“ sogar sagt, die SPD sei „im Kampf für die Pressefreiheit groß ­geworden“.

„Ratschläge“ aus der Parteizentrale

Es herrscht Aufbruchsstimmung, es ist die Zeit, in der Journalisten Redak­tionsstatuten erkämpfen. Die Redaktion, die Gründler um sich hat, steht voll hinter seinem Kurs. Sie will nicht länger Verlautbarungsjournalismus betreiben, sondern den frischen Wind, der damals durch die SPD weht, weiter anfachen. Nun erscheinen beinahe wöchentlich Artikel, wie sie im „Vorwärts“ zuvor nicht zu lesen waren, zum Beispiel über den Filz in sozialdemokratischen Hochburgen oder über die undurchsichtigen Geschäfte des damaligen Fraktionsgeschäftsführers Karl Wienand.

Schon beim ersten Interview mit dem Kanzler wird klar, dass Konflikte programmiert sind. Beim Hinausgehen gibt er dem Chefredakteur ein paar wohl­gemeinte gute „Ratschläge“ mit auf den Weg: Bei Kritik an der SPD solle er „Namen vermeiden“ und vorher bei Wehner oder Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Wischnewski „Rat einholen“. Für ­Gründler ist klar, dass er das nicht akzeptieren kann: „Das war kein journalistisches Konzept.“ Er versteht sich als „Blattmacher“, nicht als Parteimann. Der Alltag mit der Parteizentrale wird schwierig.

Eine nicht lösbare Aufgabe

Das Verhältnis zu Willy Brandt kühlt sich besonders schnell ab, schon 1972  brummt dieser: „Ich habe den ‚Vorwärts‘ noch nicht gelesen und ich habe auch nicht die Absicht, dies zu tun.“ Der Grund sind zwei Artikel, in denen der „Vorwärts“ die sozialliberale Regierung kritisiert. Für den bissigen Wehner ist Gründler bald nur noch der „Herr mit dem Hund“, eine ­Anspielung auf Cocker-Spaniel „Percy“, der gelegentlich unter Gründlers Schreibtisch liegt. Der Vizepräsident des Bundestages Hermann Schmidt-Vockenhausen beschwert sich schon nach einem Monat über den neuen Kurs. Und Klaus Schütz lästert in Berlin, er lese den „Vorwärts“ nicht und kenne auch niemanden, der ihn lese. Nur Ex-Journalist Egon Bahr hält noch lange zu Gründler und dem neuen Kurs.

Eigentlich ist das Experiment, die fast Hundertjährige mit dem großen Namen lesbar zu machen, schon nach einem Jahr gescheitert. „Wer zahlt, bestimmt die Musik“, sagt NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn den Redakteuren damals. Aber ein Konzept à la „Bayernkurier“ – das Zentralorgan der Partei zu sein – passt weder in die Zeit noch in das Verständnis der Redaktion.

Am Ende muss Gründler einsehen, dass die „Aufgabe nicht lösbar“ ist. Die ­Interessen einer Partei, die gewählt werden will, und einer Zeitung, die sich auf dem Markt behaupten muss, sind nicht unter einen Hut zu bringen. Dass ­Gründler dennoch so lang versucht, „das Wort ­Partei etwas kleiner und das Wort Zeitung etwas größer zu schreiben“, zeugt von dem vorpommerschen Dickschädel, den niemand bei diesem freundlichen Herrn mit den guten Manieren, der leisen Stimme und der geschliffenen Feder vermutet.

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Claus Lutterbeck

arbeitete bis 1976 beim „Vorwärts“. Dann wechselte er zum „stern“ und war dort unter anderem 22 Jahre Auslandskorrespondent in Rom, Paris, Wien und den USA.

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