Es war eine 16-stündige Marathonsitzung an einem schwülwarmen Sommertag in Bonn. Am Ende stimmten 357 von 657 Bundestagsabgeordneten in der Nacht zum 26. Juni 1992 für eine Reform des Strafrechtsparagraphen 218. Eine Fristenregelung löste die ungeliebte und komplizierte bis dahin geltende Indikationenregelung ab. Das bedeutete: Nach vorheriger Beratung blieb ein Schwangerschaftsabbruch während der ersten zwölf Wochen straffrei.
Dieses Abstimmungsergebnis war eine mehrfache Sensation: Obwohl im Bund eine christlich-liberale Koalition herrschte, siegte ein Gruppenantrag unter Federführung von Inge Wettig-Danielmeier, SPD und Uta Würfel, FDP. Trotz massiven Drucks in den Monaten zuvor hatte eine ganze Reihe von CDU-Abgeordneten für ihren Antrag gestimmt.
Einheitliches Recht nach der Wiedervereinigung
Zu verdanken war das Ende eines Jahrzehnte langen erbitterten Streits vor allem den Frauen aus Ostdeutschland. Die weigerten sich nämlich, sich die Indikationenregelung aufzwingen zu lassen, nach der Abbrüche nur nach Vergewaltigungen, bei Gefahr für das Leben der Mutter, bei schwersten Behinderungen des Kindes und in einer schweren sozialen Notlage legal möglich waren. In der DDR galt seit 1972 eine Fristenregelung. Das hieß: während der ersten zwölf Wochen entschied ganz allein die Frau, ob sie eine Schwangerschaft austragen wollte oder nicht. Nach der Wiedervereinigung musste nun einheitliches Recht geschaffen werden. Parteiübergreifend verweigerten sich ostdeutsche Abgeordnete der westdeutschen Lösung. Ohne sie – und ohne die couragierte Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, CDU - hätte es vermutlich kein Votum für die Fristenlösung gegeben.
Konservative "Lebensschützer" laufen Sturm
Zum zweiten Male in der Geschichte hatte das Parlament sich in jener denkwürdigen Nacht vom 25. auf den 26. Juni 1992 mehrheitlich für Straffreiheit während der ersten drei Monate ausgesprochen. Es war klar, dass die unterlegenen konservativen „Lebensschützer“ unter Federführung der bayerischen Landesregierung keine Ruhe geben, sondern wieder nach Karlsruhe laufen würden. Wie 1974. Damals hatte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz der sozialliberalen Koalition auf Antrag der baden-württembergischen Landesregierung verworfen. Ein Gesetz, für das sich Bundeskanzler Willy Brandt mit Leidenschaft eingesetzt hatte. „Der Paragraph 218 ist ein schwer erträglicher Restbestand sozialer Ungerechtigkeit aus dem vorigen Jahrhundert“, hatte er gemahnt.
"Rechtswidrig" aber "straffrei"
Zwar bestanden die Richter nicht mehr wie 1974 auf einem Verbot der Fristenlösung, dennoch aber konnte die bayerische Landesregierung mit ihrem Verbotsantrag Erfolge einfahren. Abtreibungen für die nicht eine kriminologische, medizinische oder embryopathische Indikation vorlag, blieben nach dem Willen der obersten Richter „rechtswidrig“ aber „straffrei“. Viele Frauen empfanden und empfinden das bis heute als stigmatisierend und diskriminierend. Schlimmer ist, dass als Folge dieses Urteils Abbrüche wegen einer sozialen Notlage nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt werden dürfen. Das trifft besonders Frauen aus Familien mit wenig Geld und ganz junge Frauen ohne eigenes Einkommen schwer. Sie müssen sich vor einem legalen Abbruch bis heute verschulden oder beim Sozialamt betteln gehen.
Anmaßend hat sich in all den Jahrzehnten – und das gilt bis heute – die katholische Kirche verhalten. Sie hat Frauen in Not stets alleine gelassen, die Augen davor verschlossen, dass Frauen bei illegalen Abtreibungen durch Kurpfuscher ihre Gesundheit und oft ihr Leben verloren. Sie hat das Recht des ungeborenen Lebens damit über das Leben der Mütter gestellt und darüber hinaus jedes wirksame Verhütungsmittel bekämpft. Noch im Jahre 2005 predigte Kardinal Meisner am Dreikönigstag im Kölner Dom: „Zuerst Herodes, der die Kinder von Bethlehem umbringen lässt, dann unter anderem Hitler und Stalin, die Millionen Menschen vernichten ließen und heute, in unserer Zeit, werden ungeborene Kinder millionenfach umgebracht.“ Eine Ungeheuerlichkeit, die den Atem verschlägt!
Abtreibungszahlen fallen
Was all die selbsternannten Lebensschützer dabei unterschlagen: Die Statistik spricht seit Jahren von fallenden Abtreibungszahlen. Das hat zu tun mit besseren Verhütungsmitteln, auch mit der alternden Gesellschaft, aber eben auch damit, dass Frauen angstfrei und ohne Panik entscheiden können. Keine Schwangere ist mehr zum Lügen gezwungen, muss ihr Seelenleben und ihre finanzielle Situation preisgeben, um den Schein für einen Abbruch zu bekommen. Und die Pflichtberatung – von vielen Frauen grollend Zwangsberatung genannt – hat in vielen Fällen durchaus ihr Gutes. Oft haben schwangere Frauen im Gespräch mit der Beraterin zum ersten Mal die Möglichkeit, in Ruhe über ihre Situation nachzudenken, auszusprechen, was sie wirklich wollen, sich über mögliche Hilfen zu informieren. Denn hinter vielen Abtreibungen steckt das kategorische Nein eines Mannes, der damit droht, die Frau zu verlassen und für das Kind keinen Unterhalt zu zahlen.
Pränataldiagnostik: Fluch oder Segen?
Inzwischen scheint ein anderes, ernstes Problem am Horizont auf: Die Fortschritte in der Pränataldiagnostik sind ein Segen, der auch zum Fluch werden kann. In Kürze wird es möglich sein, durch eine Blutuntersuchung der Mutter in einem sehr frühen Stadium der Schwangerschaft festzustellen, ob das Kind am Downsyndrom leiden wird. Bald schon werden sich auch schwere Erbkrankheiten sehr früh erkennen lassen, etwa Bluterkrankheit, Muskeldystrophie oder Chorea Huntington, aber eben auch sehr viel weniger dramatische Störungen, mit denen es sich durchaus leben ließe. Humangenetiker fürchten schon, es werde ein gesellschaftlicher Druck entstehen, sämtliche Föten auf genetische Auffälligkeiten zu testen. Vielleicht haben dann nur noch „perfekte Kinder“ eine Chance? Auf jeden Fall werden mit den neuen medizinischen Möglichkeiten, deren Segen unbestritten ist, Paaren mit Kinderwunsch auch neue Ängste und Konflikte aufgebürdet.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.