Geschichte

Henriette Fürth: „Fremde in ihrem Vaterland“

Sie engagierte sich für Frauen- und Kinderrechte und war die erste sozialdemokratische Frau in der Frankfurter Stadtverordneten-Versammlung. Trotz ihrer Verdienste stirbt Henriette Fürth am 1. Juni 1938 weitgehend vergessen.
von Lothar Pollähne · 1. Juni 2023
Der erste Vorstand des Vereins Weibliche Fürsorge in Frankfurt am Main. Henriette Fürth sitzt in der vorderen Reihe als zweite von rechts.
Der erste Vorstand des Vereins Weibliche Fürsorge in Frankfurt am Main. Henriette Fürth sitzt in der vorderen Reihe als zweite von rechts.

Im Frankfurter Stadtteil Schwanheim befindet sich seit 2021 ein Wandgemälde des Künstlers Thomas Stolz, das mittlerweile zu den Sehenswürdigkeiten der Main-Metropole zählt. Über sieben Stockwerke eines Wohnhauses erstreckt sich das Porträt einer Frau, die auch die Namensgeberin der vorbeiführenden Straße ist: Henriette Fürth. Das Wandgemälde lenkt die Blicke der Öffentlichkeit auf eine Frau, die die Sozialpolitik der Stadt Frankfurt/Main im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitgestaltet hat. Als Henriette Fürth am 1. Juni 1938 stirbt, ist sie von den Nazis bereits in Vergessenheit gebracht worden und bleibt es bis zum Ende des Jahrhunderts.

Hochzeit mit 19 Jahren

Am 15. August 1861 kommt Henriette als älteste Tochter des jüdischen Holzhändlers Siegmund Katzenstein und seiner Frau Sophie in Gießen zur Welt. Sie wächst in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Die Familie ist assimiliert, weltoffen und gastfreundlich. Vor allem die soziale und liberale Haltung des Vaters, der mit der Sozialdemokratie sympathisiert, prägt die junge Henriette. Nach dem Besuch der Volksschule hätte die begabte Henriette auf Anraten ihrer Lehrer Geschichte studieren sollen, aber die Eltern sehen darin keine Perspektive für ein Mädchen aus jüdischem Hause. Ein paar Monate lang besucht Henriette die „Elisabethenschule“ in Frankfurt mit dem Ziel, Lehrerin zu werden; eine am Ende des 19. Jahrhunderts durchaus übliche Berufswahl für Mädchen aus „der besseren Gesellschaft“. Für jüdische Mädchen gilt dies jedoch nur bedingt, denn die Anstellungsmöglichkeiten sind gering.

Ohne einen Abschluss erlangt zu haben, heiratet Henriette Katzenstein mit neunzehn Jahren Wilhelm Fürth, einen Verwandten ihrer Mutter. 1885 lässt sich die Familie Fürth in Frankfurt am Main nieder. Bis 1898 bringt Henriette Fürth acht Kinder zur Welt. Da sich die Familie aus finanziellen Gründen kein Hauspersonal leisten kann, ist Henriette weitgehend allein für den Haushalt und die Erziehung der Kinder verantwortlich. Dennoch fühlt sie sich nicht ausgefüllt und sucht nach Herausforderungen für ihre intellektuellen Sehnsüchte.

1931 schreibt Henriette Fürth in ihren Erinnerungen: „Ich war  nicht  nur  Mutter. Ich war ein Eigener. Ein geistiger Mensch wollte ans  Licht.  Eine Persönlichkeit.  –  Und wenn ich’s recht überlege, konnte ich als ein solcher  Eigener, Selberaner,  ...  meinen Kindern mehr sein als viele andere Frauen, die nichts anderes  waren  und  sein  wollten  als  Mütter.“

Engagiert für Frauen- und Kinderrechte

Angeregt durch ihren Bruder Simon Katzenstein, der seit 1889 Sozialdemokrat ist, beginnt Henriette Fürth publizistisch tätig zu werden. Sie ist wütend über das archaische Frauenbild von August Strindberg und schreibt 1890 eine beißende Replik. 1896 tritt sie der SPD bei und engagiert sich für Frauen- und Kinderrechte. Dabei bewegt sie sich als Grenzgängerin zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung, denn im Gegensatz zu Clara Zetkin hält sie die Zusammenarbeit sozialdemokratischer Frauen mit fortschrittlichen Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung von Fall zu Fall für geboten. Auf der ersten sozialistischen Frauenkonferenz kann sie 1901 in Mainz eine Entschließung durchsetzen, in der es heißt: „Es soll nicht länger verpönt sein, wenn die eine oder andere Genossin hier und dort mitarbeitet; wenn sie es aus sachlichen Gründen für richtig hält, bleibt es dem Takt der einzelnen überlassen.“

Als Jüdin arbeitet die sozialdemokratische Frauenrechtlerin Henriette Fürth auch im „Jüdischen Frauenbund“ mit, an dessen Gründung sie 1904 beteiligt war. Obwohl selbst assimiliert, lehnt sie Assimilation als „Selbstaufgabe“ ab und plädiert stattdessen für eine Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins. Ihren Kindern bringt sie bei, sich überdurchschnittlich in soziale und kulturelle Belange einzumischen: „Juden müssen mehr Beiträge leisten als andere. Ihr müsst wohltätiger sein als sie — Beschützer der Schwachen, Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit, schlau wie eine Schlange und sanftmütig wie eine Taube.“

Die erste Kriegsküche Frankfurts

Mit Beginn des Weltkrieges werden die Sorgen und Nöte der alleinerziehenden Arbeiterfrauen offensichtlich. Mit Unterstützung ihrer Töchter eröffnet Henriette Fürth bereits 1914 in Frankfurt/Main die erste Kriegsküche und betätigt sich als Ernährungsberaterin. Die Kriegsküchenarbeit wird zeitweise ihr Hauptthema. Sie veröffentlicht ein „Kleines Kriegskochbuch“ und beschäftigt sich aus soziologischer Sicht mit Fragen der Massenspeisung und der Gesundheitsvorsorge.

Als nach der November-Revolution die Frauen endlich das Wahlrecht erhalten, wird Henriette Fürth 1919 als Kandidatin für die Nationalversammlung im Wahlkreis Offenbach-Dieburg aufgestellt, verfehlt aber den Einzug in das erste, freigewählte deutsche Parlament im Gegensatz zu ihrem Bruder Simon knapp. Parlamentarierin wird sie dennoch. 1919 wird Henriette Fürth als erste sozialdemokratische Frau in die Frankfurter Stadtverordneten-Versammlung gewählt. Ihre Arbeitsschwerpunkte findet sie in der Deputation für das Schul- und Gesundheitswesen und im Lebensmittelamt. Nebenher richtet Henriette Fürth mit Unterstützung der Gewerkschaften und der SPD eine kostenlose Rechtsberatungsstelle ein, in der sie selbstverständlich ehrenamtlich mitarbeitet.

Ehrungen von den Nazis entzogen

Henriette Fürth ist eine rastlose Frau, die ihr Leben lang darunter leidet, keine Berufsausbildung zu haben. Das erklärt ihre immense publizistische Tätigkeit, mit der sie ihre vermeintlichen Defizite zu kompensieren sucht. Bis die Nazis sie mit Publikationsverbot belegen, veröffentlicht Henriette Fürth gut 30 Bücher und über 200 Artikel, die sich vor allem mit frauenspezifischen Themen beschäftigen.

Nach ihrem Ausscheiden aus der Stadtverordneten-Versammlung engagiert sich Henriette Fürth im Frankfurter Institut für Gemeinwohl, in der Arbeiterwohlfahrt und im großen Rat der Universität Frankfurt, an deren Gründung sie beteiligt war. Für ihre Verdienste wird sie 1931 mit der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt am Main und der Ehrenurkunde der Universität ausgezeichnet. Beide Ehrungen werden ihr zwei Jahre später von den Nazis entzogen. Die bittere Bilanz ihres Lebens hat Henriette Fürth bereits 1931 in ihren Erinnerungen zusammengefasst: „Nachklang. Mein Leben als Ganzes? Kein Ganzes. Autodidaktisch in allen Stücken. Gehemmt als Frau, als Jüdin und Sozialistin.“

Als Henriette Fürth am 1. Juni 1938 in Bad Ems stirbt, ist sie in Deutschland vergessen, „als Fremde in ihrem Vaterland“, wie ihr Freund, der Rechtssoziologe Hugo Sinzheimer im niederländischen Exil schreibt. Die Gießener SPD hat die „Fremde“ 2008 „zurückgeholt“ und ihr Haus in der Grünberger Straße nach Henriette Fürth benannt.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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