Geschichte

„Helmut Schmidt war mehr als nur ein Macher“

Helmut Schmidts Rolle in der Weltpolitik wird häufig vernachlässigt. „Die Bonner Republik erfuhr unter Schmidt eine enorme politische Aufwertung in der Welt“, sagt die Historikerin Kristina Spohr. Die SPD habe das jedoch zu spät gemerkt.
von Kai Doering · 8. November 2016
Helmut Schmidt und Leonid Breschnew im November 1981 in Bonn
Helmut Schmidt und Leonid Breschnew im November 1981 in Bonn

Wenn man an Helmut Schmidt denkt, fallen einem Schlagworte wie „Sturmflut“ oder „Schleyer-Entführung“ ein, also eher nationale Themen. Was macht Helmut Schmidt aus Ihrer Sicht zu einem „Weltkanzler“, wie Sie Ihr Buch benannt haben?

In Deutschland ist es weit verbreitet, den jeweiligen Kanzler aus der Pespektive des eigenen Landes zu sehen. Und es gab eine Tendenz die politische Lebenleistung der Bundeskanzler an der deutschen Frage zu messen. Das mag bei dem einen oder anderen auch richtig sein, bei Helmut Schmidt greift es aber zu kurz. Er war nie nur der „Macher“ als der er immer dargestellt wurde und wird. Er war auch nicht nur eine Übergangsfigur zwischen Brandt und Kohl. Das besondere bei Schmidt ist, dass er immer schon global gedacht hat, seit den späten 40er Jahren. Außerdem hat er früh erkannt, dass die Behebung der Weltwirtschaftsprobleme ein Kern der Außenpolitik sein müssen. Hinzu kam seine Überzeugung, dass in einer immer stärker interdependenten Welt Probleme nur grenzübergreifend gelöst werden können. Man musste kooperieren und koordiniert handeln. So ist es auch Schmidts Verdienst, die G7 geschaffen zu haben. Im übrigen hat Helmut Schmidt schon deutlich früher als viele andere Chinas Rolle als aufstrebende politische sowie Wirtschaftsmacht erkannt.

Heftig umstritten war Schmidts Entscheidung, den NATO-Doppelbeschluss, der zur Stationierung von US-Raketen in Deutschland führte, voranzutreiben. Was hat ihn damals bewegt?

Helmut Schmidt sah es als eine Gewissensfrage an, den Frieden zu sichern. Er war davon überzeugt, dass nur ein militärisches Gleichgewicht zwischen Ost und West den Frieden sicherstellen könnte. Nachdem die Sowjetunion damit begonnen hatte, SS-20-Raketen in Osteuropa zu stationieren, war Schmidt der Auffassung, man müsse Moskau entweder zur Abrüstung bewegen oder, falls das nicht gelinge, müsste die NATO mit Pershing-2- und Cruise-Missile-Raketen nachrüsten um dagegen zu halten. Leider wurde und wird in der Debatte über den NATO-Doppelbeschluss häufig ausgeblendet, dass Schmidt den Abrüstunsgweg, bevorzugt hätte.

Wie kommt das?

In den 70er und 80er Jahren herrschte in weiten Teilen der Bevölkerung und durchaus auch in der SPD ein starker Antiamerikanismus. Hinzu kam eine deutliche Ablehnung der Atomenergie, die auch auf Atomwaffen übertragen wurde, durch die entstehende Ökologiebewegung. Die Menschen hatten große Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Das war die Gemengelage in der die Entscheidung über den NATO-Doppelbeschluss gefällt wurde. Und die Nachrüstung war eben ein Strang des NATO Beschlusses, um die militärische Balance und Stabilität in Europa wieder herzustellen, nachdem die Abrüstungsgespraeche zwischen den USA und der UdSSR infolge der sowjetischen Invasion in Afghanistan einfroren. Dennoch, Schmidt hätte am liebsten die Null-Lösung gehabt, also die sowjetische Abrüstung ihrer SS-20, so dass die NATO ihrerseits auf die Nachrüstung hätte verzichten können.

In Ihrem Buch werfen Sie dem pazifistisch und amerikakritisch eingestellten Teil der SPD vor, Helmut Schmidt als Kanzler gestürzt zu haben. Wie kommen Sie darauf?

Helmut Schmidt konnte es keiner Seite so richtig recht machen. Den einen galt er als Rüstungskanzler, weil er den NATO-Doppelbeschluss vorangetrieben hat, den anderen als Appeaser, weil er sich u.a. in Moskau mit Breschnew und in der DDR mit Honecker traf. Die Flügelkämpfe innerhalb der SPD haben schließlich auch die Koalition zerrieben und zerissen. Und so kam es zum schmählichen Ende der Kanzlerschaft Schmidt im Herbst 1982.

Welche Rolle spielte Helmut Schmidt, der ja die damals international nicht sehr bedeutende Bundesrepublik vertrat, bei den Gesprächen zwischen den USA und der Sowjetuion?

Schmidt hat sich selbst in die Rolle eines sogenannten Doppeldolmetschers katapultiert. Er war stets der Auffassung, dass er mit beiden Seiten, Russen wie Amerikanern, sprechen müsse – nicht zuletzt im Interesse Deutschlands. Das stieß nicht immer auf Verständnis. 1980 ist Helmut Schmidt z.B. zu Gipfelgesprächen nach Moskau gefahren, gegen den Willen des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter. Aber nur in dieser Rolle des „Doppeldolmetschers“ hat Schmidt die Abrüstungsgespräche zwischen UdSSR und USA wieder in Gang bringen können – was gerade mit Blick auf die Sicherheit Deutschlands, auf die Deutsche Frage und auf die spätere Wiedervereinigung entscheidend war.

Wo stünde Deutschland heute international ohne das Wirken Helmut Schmidts?

Das ist sehr schwer zu beurteilen. Wo Deutschland heute steht, hat natürlich zu einem großen Teil damit zu tun, dass es 1990 die Wiedervereinigung gegeben hat. Das hat nicht direkt mit dem Wirken Schmidts zu tun, indirekt aber schon: Durch seine Art der „Weltpolitik“ wie sie Schmidt selbst genannt hat, hat er Deutschlands Rolle global gestärkt und starken Einfluss auf die internationale Gipfeldiplomatie genommen. So konnte Helmut Kohl 1990 auch die  2+4-Gespräche führen, um die Wiedervereinigung einzuleiten.  Die Siegermächte verhandelten nicht über die, sondern mit den Deutschen. Ohne die 1+3-Gespräche in Guadeloupe 1979, die Schmidt zuvor mit Frankreich durchgesetzt hatte, wäre das wohl so nicht möglich gewesen. Denn gerade durch Guadeloupe, als Schmidt Platz nahm am Tisch der führenden westlichen Nationen,  gewann die Bundesrepublik einen quasi-egalitären Status mit den drei westlichen Atom- und Siegermächten. Und so erfuhr die Bonner Republik unter Schmidt eine enorme politische Aufwertung in der Welt.

Nach dem Ende seiner Kanzlerschaft und mit zunehmendem Alter wurde Helmut Schmidt sehr veehrt. Wie erklären Sie sich diesen Wandel in der Wahrnehmung?

Die hymnische Verehrung Schmidts hat so richtig nach dem Ende der Ära Kohl 1998 begonnen. Sie war für Helmut Schmidt so etwas wie eine zweite Karriere. In seinen Artikeln, Büchern und Auftritten hat er die Sehnsucht der Menschen nach Orientierung in einer höchst unsteten, ja als  immer gefärlicher empfundenen Welt gestillt. Dabei haben ihm seine weltweiten Netzwerke und seine Rolle als Herausgeber der „Zeit“ natürlich geholfen. Schmidt erteilte Ratschläge und zeigte wieder die Fähigkeit, dank seines soliden Wissens - basierend auf langjährigen Reflexionen - die Dinge mit Weitblick zu erklären. Ansich war dies nichts Neues – es war, so würde ich behaupten, der rote Faden seines Lebens. Nur jetzt konnte er das aus einer Position tun, in der er frei war von politischer Verantwortung; und in dieser Rolle als Elder Statesman gewann er schließlich auch die Zuneigung der meisten Deutschen, die er als Kanzler so nie erfahren hatte.  

Sie haben für Ihr Buch mehrfach und lange persönlich mit Helmut Schmit gesprochen. Wie haben Sie ihn erlebt?

Das erste Gespräch fand 2013 in seinem Büro bei der „Zeit“ statt. Helmut Schmidt rauchte eine Zigarette nach der anderen und ich stellte ihm einige nicht ganz angenehme Fragen, da ich in Archiven Sachverhalte gefunden hatte, die er in seinen Büchern anders dargestellt hatte. Es ging u.a. um sein Verhältnis zu Egon Bahr und die Neutronenbomben-Affäre. Nachdem wir diese Dinge in einer guten halben Stunde eher sachlich geklärt hatten, wollte ich noch einige atmosphärische Dinge wissen, etwa wie es war, als Breschnew ihn zuhause in Hamburg  besucht hat. Da wurde Helmut Schmidt deutlich gesprächiger und wir haben uns noch eineinhalb Stunden sehr nett unterhalten. Hinterher hatte ich das Gefühl, der erste Teil des Gesprächs war etwa so, wie es damals zwischen Schmidt und Jimmy Carter gewesen war - ein schwieriges Gipfeltreffen, bei dem der eine den anderen taxiert. Bei unserem letzten Gespräch war mein Manuskript schon fertig. Ich wollte aber noch einige Dinge zu seinem persönlichen Verhältnis zu Kissinger und zu seiner Russland-Reise 1966 wissen. Ich traf nun Helmut Schmit zuhause in seinem Arbeitszimmer. Als wir uns eine Viertelstunde unterhalten hatten, ist er mit einem Mal von deutsch zu englisch gewechselt und ist gleichzeitig aufgeblüht. Wir sprachen dann später noch über seinen China-Besuch 1975, und schließlich über sein Klavierspiel und wie es ist, auf der Bühne zu stehen. Da hatte ich dann das Gefühl: Jetzt lerne ich den Menschen hinter dem Staatsmann kennen.

Kristina Spohr lehrt als Associate Professor Internationale Geschichte an der London School of Economics.
Kristina Spohr: Helmut Schmidt – Der Weltkanzler, Theiss Verlag 2016, ISBN: 9783806234046, 29,95 Euro

Schlagwörter
Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare