Godesberger Programm: Als die SPD regierungsfähig wurde
Nach der verlorenen Bundestagswahl 1957 ging es schnell mit der Neuaufstellung der SPD. Obwohl die Partei einen Zuwachs von 3,0 Prozentpunkten erreichen konnte, empfand sie das Wahlergebnis als demütigende Niederlage, denn die Konkurrentin CDU/CSU erzielte mit 50,2 Prozent ein überwältigendes Resultat. Unter der Führung von Konrad Adenauer hatte sie politisch und im Wahlkampf alles richtig gemacht, jedenfalls sah dies die Wählerschaft so.
Die SPD hingegen schien alles falsch gemacht zu haben: inhaltlich-programmatisch, personell und wahlkampf-taktisch. Jedenfalls kamen zahlreiche Wahlanalysen zu diesem Urteil, und wichtige SPD-Politiker außerhalb der engeren Parteiführung übernahmen diese Wertungen.
SPD-Erneuerung mit neuem Grundsatzprogramm
Der Vorstoß der Reformer führte zu deutlichen Veränderungen an der Spitze der SPD-Bundestagsfraktion, denen auf dem Stuttgarter Parteitag 1958 weitere Korrekturen folgten. Die Parteileitung wurde gründlich verändert, auch die Zusammensetzung des Parteitages und der bisherige Parteiausschuss in einen einflussreicheren Parteirat umgewandelt.
Nachdem schon 1954 eine 50-köpfige Kommission mit der Beratung eines Parteiprogramms begonnen hatte, sollte die Erneuerung der SPD mit einem neuen Grundsatzprogramm abgerundet werden. Offiziell galt bis dahin immer noch das Heidelberger Programm von 1925.
Kurt Schumacher, der Vorsitzende der 1946 wiedergegründeten SPD, hatte zunächst die Richtung vorgegeben, dass in einer Übergangszeit ein neues Programm sinnlos sei. Ein gutes Jahrzehnt danach sollte es nicht bei Schumachers Diktum bleiben. Zu unklar wurde die SPD mit dem überholten Heidelberger Programm empfunden, zu viele Angriffsflächen bot deswegen die Partei.
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als Orientierung
Eine weitere Festlegung befolgte der Programmentwurf jedoch ausdrücklich. Der Entwurf verzichtete auf eine marxistische Gesellschaftsanalyse. Die SPD der Zukunft sollte offen sein für unterschiedliche theoretische Begründungen. Allein an den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sollte sich sozialdemokratische Politik orientieren.
Das Bekenntnis zu einem linken Reformismus, der auf die Unterfütterung durch die marxistische Theorie verzichtete, war ein klarer Sieg des sogenannten Revisionismus, der beginnend mit Eduard Bernsteins Kritik an der Parteilinie vor 1914 zwar stets an Einfluss gewonnen hatte, doch die Parteiprogramme fielen anders aus. Neben die geduldete Mitarbeit der Marxisten trat mit dem Godesberger Programm deutliche Ableitung aus der Ethik Kants und den Vorstellungen der Religiösen Sozialisten.
Keine Mehrheit für Marx
Obwohl das Programm in seinen Entwurfsfassungen jahrelang diskutiert worden war, löste die Ansetzung eines außerordentlichen Parteitages für das Jahresende noch einmal heftige Diskussionen aus. Sie bestritt vor allem der Kommissionssekretär Willi Eichler, ein Repräsentant des ethischen Sozialismus, den in der Weimarer Republik der Göttinger Philosoph Leonard Nelson entwickelt hatte.
Es überrascht, dass die theoretischen Grundlagen für das neue Programm zwar ausführlich diskutiert wurden, doch die Vorlagen für eine marxistische Orientierung fanden keine Mehrheit. Die meisten Kapitel erhielten nur wenige Gegenstimmen. In der Schlussabstimmung gab es 16 Gegenstimmen.
Die 23 Gegenstimmen zum Kapitel „Landesverteidigung“ transportierten noch einmal Vorbehalte gegen die erfolgte Wiederbewaffnung. Auch das Kapitel „Religion und Kirche“ lief nicht glatt durch den Parteitag. Mit diesem Kapitel, das den Friedensschluss mit der katholischen Kirche einläuten sollte, verbanden sich große Erwartungen der Parteiführung, die in den kommenden Jahrzehnten in Grenzen bestätigt wurden. Jedenfalls unterblieben bei der Bundestagswahl 1965 die Wahlaufrufe der Bischöfe zugunsten der CDU/CSU.
Absage an Vergesellschaftung überzeugt nicht alle
Die höchste Zahl von 42 Gegenstimmen erhielt das Kapitel „Eigentum und Macht“. Die klare Absage an eine Vergesellschaftungspolitik ohne zwingende Gründe überzeugte nicht jeden Delegierten, obwohl das Programm staatliche Eingriffe nicht ausschließt. Jedenfalls kann die Godesberger Grundentscheidung für die Marktwirtschaft nicht als Begründung für die spätere bedenkenlose Privatisierungspolitik von Sozialdemokraten in den Ländern und den Kommunen herangezogen werden.
Öffentliches Eigentum an Unternehmen der Daseinsvorsorge war nach dem Godesberger Programm selbstverständlich in einer gemischtwirtschaftlichen Ordnung. Auf Vorbehalte stieß auch die Kompromiss-Formel: Wettbewerb soweit wie möglich – Planung soweit wie nötig. Tatsächlich erweiterte die regierende SPD die Planungskompetenzen des Staates erheblich.
Voraussetzung für den Aufstieg der SPD
Aus der Distanz von Jahrzehnten betrachtet, bildete das Godesberger Programm eine zentrale Voraussetzung für den Aufstieg der SPD in den 1960er Jahren. Es warf Ballast ab und räumte Missverständnisse beiseite. In seinen Einzelforderungen war es erstaunlich präzise, sodass eine Bilanz 60 Jahre nach Godesberg festhalten kann: Die SPD hat erstaunlich viel durchgesetzt.
Zwei Vorwürfe seiner Kritiker bestätigten sich jedoch auch: Der wirtschaftliche Optimismus war übertrieben und das Programm ist einseitig auf die parlamentarische Politik ausgerichtet. Es vernachlässigt die notwendige gesellschaftliche Unterstützung für jede Reformpolitik.
Als die Delegierten am späten Nachmittag des 15. November abreisten – der Parteitag endete um 16.30 Uhr, konnten sie den Eindruck mitnehmen, demnächst werden wir eine Bundestagswahl gewinnen. Der nächste Schritt erfolgte dann 1960 in Hannover mit der Wahl Willy Brandts zum Kanzlerkandidaten.
war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.