Geschichte

Gipfeltreffen in Erfurt: Als Willy Brandt ans Fenster musste

Bundeskanzler Willy Brandt trifft am 19. März 1970 zu offiziellen Gesprächen mit dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph in Erfurt zusammen. Es ist das erste deutsch-deutsche Treffen auf Ebene der Regierungschefs – und hinterlässt einen bleibenden Eindruck.
von Thomas Horsmann · 18. März 2020
Willy trifft Willi: Am 19. März 1970 kommen Willy Brandt (l.) und Willi Stoph zum ersten deutsch-deutschen Regierungsgipfel in Erfut zusammen.
Willy trifft Willi: Am 19. März 1970 kommen Willy Brandt (l.) und Willi Stoph zum ersten deutsch-deutschen Regierungsgipfel in Erfut zusammen.

Die bundesdeutsche Delegation bezieht gerade ihre Räume im zweiten Stock des Hotels „Erfurter Hof“. Draußen umlagern einige Tausend Menschen das Hotel und drohen, die Türen einzudrücken. Polizei und Stasi haben die Kontrolle verloren. Die Menge skandiert ekstatisch: „Willy Brandt ans Fenster! Willy Brandt ans Fenster!“ Regierungssprecher Conrad Ahlers ruft den Bundeskanzler herbei: „Die Leute sind ganz außer sich.“

Es droht eine Eskalation. Eine denkbar ungünstige Situation für die schwierigen Gespräche mit der DDR-Regierung. Brandt will seinen Gesprächspartner Willi Stoph, den Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, nicht brüskieren. Ahlers drängt jedoch. „Aber nur einen Augenblick“, entscheidet Brandt. Dann tritt er ans offene Fenster. Es ist 9.45 Uhr am Donnerstag, 19. März 1970. Tosender Jubel brandet auf. Der westdeutsche Kanzler lächelt zaghaft. Schaut still auf die jubelnde ostdeutsche Menge herab. Dann hebt er die rechte Hand ein wenig zum Gruß. Sofort wird es still, die Erfurter beruhigen sich. Wenige Minuten später beginnen die Gespräche.

Der berühmte Tag von Erfurt

Gut zwanzig Jahre später erinnert sich der SPD-Vorsitzende: „Der Tag von Erfurt. Gab es einen in meinem Leben, der emotionsgeladener gewesen wäre?“ Es ist der erste Besuch eines Bundeskanzlers in der DDR und der erste Schritt zur Anerkennung der staatlichen Existenz des anderen deutschen Staates. Die sozialliberale Koalition unter Brandt verfolgt eine von Egon Bahr entworfene neue Ostpolitik unter dem Schlagwort „Wandel durch Annäherung“. Sie setzt auf internationale Entspannung und Verständigung mit den Nachbarn im Osten.

Brandt beendet die erfolglose Politik der Christdemokraten, die seit Adenauer stets darauf pochten, dass nur die Bundesrepublik in Bonn Deutschland allein verträte. Statt die DDR zu ignorieren, wird nun anerkannt, dass sie existiert und nicht einfach verschwinden wird. Die sozialliberale Koalition setzt auf Dialog, um die Beziehungen beider deutscher Staaten zu verbessern und um menschliche Erleichterungen im innerdeutschen Verhältnis zu erreichen. Brandts Politik ist der „Wahrung der Einheit der Nation“ verpflichtet – die er allerdings eher in ferner Zukunft erwartet.

Für Frieden und Entspannung

Gleichzeitig verhandelt die Bundesrepublik mit der Sowjetunion und Polen über ein Gewaltverzichtsabkommen. Die Verträge von Moskau und Warschau, die den Status Quo in Europa anerkennen, werden im August und Dezember 1970 unterzeichnet. 1971 folgt das Viermächteabkommen über Berlin, das die Lage der geteilten Stadt stabilisiert. In diesem Rahmen wird der heftig umstrittene deutsch-deutsche Grundlagenvertrag ausgehandelt, mit dessen Unterzeichnung am 21. Dezember 1972 die Bundesrepublik und die DDR offiziell Beziehungen zueinander aufnehmen.

Doch diese Friedens- und Entspannungspolitik, für die Willy Brandt 1971 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird, steht in Erfurt noch am Anfang. Die frostigen Gespräche im Tagungshotel unter einem Porträt von DDR-Staatschef Walter Ulbricht enden ergebnislos. Immerhin wird ein Gegenbesuch vereinbart. Erst die weiteren Verhandlungen bringen die beiden deutschen Staaten einander näher.

Zur Farce wird die Abreise der westdeutschen Delegation. Inzwischen hat die Stasi den Platz vor dem Hotel Erfurter Hof geräumt und linientreue Bürger herangekarrt. Sie dürfen rufen „Hoch, hoch, hoch – es lebe Willi Stoph“ oder „Herr Brandt, wir geben Ihnen bekannt, hier ist das wahre deutsche Land“.

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