Geschichte

Gerhard Schröder und die internationale Politik

von Die Redaktion · 1. Dezember 2005
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Für mich ist es sicherlich schwierig, Anspruch darauf zu erheben, die vielseitige außenpolitische Tätigkeit von Gerhard Schröder umfassend zu charakterisieren. Es ist eine gängige Meinung, dass die Hinterlassenschaft bedeutender Politiker erst nach Ablauf der Zeit objektiv und im vollen Umfang zu beurteilen ist. Der persönliche Beitrag des Bundeskanzlers ist jedoch so einprägsam und seine Politik dermaßen konsequent, dass bestimmte Einschätzungen bereits heute angebracht sind. Deswegen freue ich mich über die Gelegenheit, meinen persönlichen Standpunkt zum Ausdruck zu bringen. Der beruht auf einem langen gemeinsamen Wirken und auf den rein menschlichen Eindrücken von Kontakten mit dem deutschen Bundeskanzler.

Ich möchte die wichtigsten Eigenschaften Gerhard Schröders als Politiker hervorheben: sein überaus ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein, sein Mut und seine Zuverlässigkeit. Hinzu kommt seine Fähigkeit, langfristige Interessen seines Landes entschlossen zu verteidigen. Bei Verhandlungen war er stets auf ein konkretes praktisches Ergebnis ausgerichtet, das Deutschland und dessen Volke dienen würde. Zugleich hat Gerhard Schröder jedoch immer den Argumenten seiner Partner zugehört und diese wahrgenommen. Er hat es sich nie zum Ziel gesetzt, seinen Standpunkt um jeden Preis "durchzupeitschen". Im Gegenteil, für ihn ist die Offenheit für einen Dialog, die Bereitschaft kennzeichnend, um der gemeinsamen Sache willen nach Kompromissen zu suchen, um konstruktive Lösungen herbeizuführen.

Unsere Ansichten zu den aktuellen Problemen des Weltgeschehens stimmten nicht immer überein. Das ist ganz natürlich in einer komplexen und widerspruchsvollen Welt der "großen Politik". Zu einer Schlüsselfrage hatten wir jedoch nie Meinungsverschiedenheiten: Wir beide waren uns der strategischen Bedeutung des Ausbaus und der Vertiefung der langfristigen russisch-deutschen Zusammenarbeit bewusst.

Seit Jahrhunderten hatten die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern in vieler Hinsicht die gesamte politische Lage in Europa entscheidend mitgeprägt. Bekanntlich führten Konfrontation und Konflikte zwischen uns zu Katastrophen des gesamteuropäischen und globalen Ausmaßes. Hingegen hat eine fruchtbringende und gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit die Lage stabilisiert und Perspektiven für Frieden und Stabilität auf dem Kontinent eröffnet.

Bundeskanzler Schröder hat von Anfang an den aufrichtigen Wunsch gezeigt, all das Beste, Positive, was in den russisch-deutschen Beziehungen bis dahin erzielt worden war, zu mehren. Es wird wohl keine Übertreibung sein, ihn als einen Menschen zu bezeichnen, der nicht nur unsere strategische Partnerschaft mitinspirierte, sondern auch eine einzigartige Rolle bei der Vollendung des schwierigen und langwierigen Prozesses der historischen Aussöhnung zwischen Russen und Deutschen spielte. Es ist höchst symbolträchtig, dass zum 60. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs, der unseren Völkern so viele Opfer und so viel Leid abverlangte, Russland und Deutschland den Höchststand des gegenseitigen Verständnisses und der Kooperation in der Geschichte ihrer Beziehungen erreicht haben und der Kanzler selbst Gast bei den Feierlichkeiten in Moskau war.

Vertrauensvolle Beziehung

Unsere beiden Länder vertreten heute auf der Weltbühne gleiche Positionen oder handeln parallel, indem sie den Grundsätzen des Vorrangs des Völkerrechts und der friedlichen Regelung von Konflikten Geltung verschaffen. In diesem Sinne betrachte ich Gerhard Schröder als Fortsetzer der Traditionen, die seinerzeit durch den großen deutschen Philosophen Immanuel Kant formuliert wurden.

Vertrauensvolle Beziehungen zu Deutschland sind ein wichtiger Bestandteil des langfristigen Zusammenwirkens zwischen Russland und der Europäischen Union insgesamt. In diesem Zusammenhang möchte ich auch den positiven Charakter unserer Treffen im "Dreierformat" unter Teilnahme von Jacques Chirac hervorheben. Zur Erinnerung: Gipfeltreffen dieser Art fingen bereits in der Zeit an, als Helmut Kohl der deutsche Bundeskanzler war.

Stabilität und Sicherheit

Gerade unter Gerhard Schröder schloss sich Deutschland gemeinsam mit Russland und den USA umgehend und mit aller Kraft dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus an, der die Hauptherausforderung für globale Stabilität darstellt. Die Bundesrepublik hat den Bonner Prozess zur Regelung in Afghanistan angestoßen, der die Strategie des Wiederaufbaus der Staatlichkeit dieses Landes bestimmte. Durch seine Präsenz in Afghanistan und sonstigen "Konfliktherden", durch zielgerichtete Arbeit in der UNO und in anderen multilateralen Institutionen in Bereichen wie Friedenssicherung, präventive Diplomatie, Vorbeugung und Regelung der Krisen, Post-Konflikt-Management weist sich Deutschland nicht nur als zuverlässiger Partner im Rahmen der früherübernommenen Verpflichtungen vor seinen traditionellen Verbündeten aus. Es tut dies, ohne dabei die grundlegenden Prinzipien und Normen des Völkerrechts zu verletzen, ohne sich in zweifelhafte Aktionen einbeziehen zu lassen und ohne irgendwelchem Druck von außen nachzugeben.

Unter der Führung von Gerhard Schröder hat sich die Bundesrepublik als fähig erwiesen, eine unabhängige Außenpolitik zu führen, die auf den besten Traditionen des europäischen Humanismus und auf den nationalen Interessen beruht. Er tat das, ohne den Stereotypen der Vergangenheit zu verfallen, im vollen Bewusstsein der Rolle und der Bedeutung Deutschlands in der modernen Welt und auf der Grundlage einer eingehenden Analyse der Zukunft der internationalen Beziehungen.

Ich darf betonen, dass eine unabhängige Außenpolitik eines der Kernelemente der Souveränität eines jeden Landes ist. Und wir wissen und verstehen sehr wohl, dass bei weitem nicht alle Staaten und deren Führungspersonen in den vergangenen Zeiten imstande waren und heute imstande sind, eine solche Politik zu betreiben. Gerhard Schröder schaffte es.

Ich erinnere mich daran, wie Gerhard Schröder, als er noch in der Opposition war, oftmals einzelnen Elementen der Russland-Politik seines Amtsvorgängers kritisch gegenüberstand. Darin, dass er als Kanzler dann im Grunde genommen die Linie von Helmut Kohl in den Beziehungen zu Russland fortgesetzt hat, sehe ich weder eine Abweichung

von Prinzipien noch konjunkturbedingte Überlegungen. Im Gegenteil, es zeugt von der Fähigkeit, über jegliche Konjunktur erhaben zu sein, Realitäten richtig einzuschätzen und auf deren Grundlage eine praxisorientierte Politik zu gestalten.

Und die Realitäten der heutigen Welt sind so, dass von den guten Beziehungen zwischen Russland und Deutschland nicht nur eine sichere Energieversorgung Europas, nicht nur die Schaffung neuer Arbeitsplätze und Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit unserer Volkswirtschaften, sondern im weitesten Sinne dieser Worte die Stabilität und Sicherheit in der Welt abhängen. Ich hoffe, dass das Bekenntnis zu diesen Basiswerten dem russisch-deutschen Zusammenwirken sowohl heute als auch künftig zugrunde liegen wird.

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