Geschichte

Froschschenkel essen oder Kröten schlucken / Bundestagswahlkampf 1966

von Die Redaktion · 7. November 2005
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Günter Grass ist empört. Da trommelt er im Bundestagswahlkampf 1965 für die SPD und die Ablösung der CDU und was passiert? Die SPD tritt ein Jahr später in eine Große Koalition ein und wählt Kurt Georg Kiesinger von der CDU zum Bundeskanzler. In einem Protestbrief an Willy Brandt warnt Grass vergeblich: "Die Jugend unseres Landes wird sich nach links und rechts verrennen, sobald diese miese Ehe geschlossen sein wird."

Was war geschehen? Die Regierung Erhard aus CDU/CSU und FDP ist 1966 im Streit um Steuererhöhungen zerbrochen. Die SPD will Neuwahlen, kann sich aber gegen Union und Liberale nicht durchsetzen, die eine Abstrafung durch den Wähler fürchten. Also bleiben zwei Optionen für die SPD: ein Bündnis mit der FDP oder mit der Union.

Eine sozialliberale Koalition hat in der SPD-Spitze nur wenig Fürsprecher. Denn die damalige FDP unter Erich Mende ist eher nationalliberal und marktradikal ausgerichtet. Auch Kanzlerkandidat Willy Brandt ist angesichts der knappen Mehrheit skeptisch gegenüber einem Bündnis mit der FDP: "Ich war nicht für ein Abenteuer, das ich später vor der Partei und vor der deutschen Öffentlichkeit nicht hätte vertreten können." Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt: Die SPD will erstmals ihre Regierungsfähigkeit im Bund beweisen. Und das geht am besten mit der CDU, die der SPD jahrelang Unfähigkeit zur Regierung attestiert hatte. "Die Salbung mit liberalem Öl genügt nicht, wir brauchen das christdemokratische Weihwasser", argumentiert Herbert Wehner, damals stellvertretender SPD-Vorsitzender.

Dennoch stößt die Große Koalition in der SPD auf Widerstand. Besonders der Eintritt von CSU-Chef Franz-Josef Strauß scheint vielen Genossen eine unannehmbare Provokation. Hunderte demonstrieren vor dem Parteivorstand in Bonn mit Transparenten wie "Wehner abtreten" und "Wer Strauß ruft ins Kabinett, geht auch mit der NPD ins Bett".

Ungeachtet der Proteste einigen sich SPD und Union auf eine Ko-

alition. Doch Skepsis bleibt, auch in der SPD-Bundestagsfraktion, die das Bündnis mit nur 60 Prozent Ja-Stimmen billigt. Über 100 Bundestagsabgeordnete, vermutlich aus der SPD, verweigern Kiesinger schließlich bei der geheimen Kanzlerwahl die Stimme.



"Die große Koalition war ein großer Erfolg für die SPD"


Zehn Minister stellt die Union, neun die SPD. Mit ihren Ministern kann die SPD punkten: Rasch brillieren politische Schwergewichte wie Außenminister Willy Brandt, Justizminister Gustav Heinemann, Wirtschaftsminister Karl Schiller, Herbert Wehner als Minister für gesamtdeutsche Fragen, Bundesratsminister Carlo Schmid, Verkehrsminister Georg Leber oder Entwicklungshilfeminister Hans-Jürgen Wischnewski bzw. sein Nachfolger Erhard Eppler.

Zu den wichtigsten Leistungen der neuen Regierung gehören umfassende Reformen im Bereich Wirtschaft und Finanzen, bei der Bildung und im Strafrecht, erste Schritte einer neuen Ostpolitik und die Verabschiedung der Notstandsverfassung.

Fragt man heute Sozialdemokraten, die damals in Bonn Politik machten, nach den Erfolgen der Großen Koalition, fällt die inhaltliche Breite der Antworten auf. Holger Börner, damals Parlamentarischer Verkehrsstaatssekretär, hebt als ehemaliger Baupolier "die Ausdehnung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von den Angestellten auch auf Arbeiter" hervor. Erhard Eppler, seinerzeit Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, betont die "Anfänge der Ost- und Entspannungspolitik zusammen mit der CDU, ohne die Brandts spätere Friedenspolitik nicht möglich gewesen" wäre. Albrecht Müller, damals Redenschreiber von Wirtschaftsminister Schiller, lobt vor allem "die schnelle Überwindung der Rezession". Da "Konjunkturpolitik zur Hälfte Psychologie" sei, habe die positive Stimmung sehr geholfen, die die Große Koalition verbreitete.

War das Bündnis mit der Union also richtig für die SPD? Ulrich Pfeiffer, zusammen mit Müller Redenschreiber bei Schiller, hat keinen Zweifel: "Ohne Frage, die Große Koalition war ein großer Erfolg für die SPD." Dadurch habe die Partei ihre Regierungsfähigkeit bewiesen und neue Wählerschichten erreicht. Auch Holger Börner ist sicher: "Ohne die Große Koalition hätte die SPD die Wahl 1969 nicht gewonnen."

Heute, im Jahr 2005, betont die SPD ihren Anspruch, "nur auf gleicher Augenhöhe" in eine Große Koalition einzutreten. Wie war das damals? Erhard Eppler erinnert sich: Kanzler Kiesinger habe sich vor allem als Vermittler profiliert und von seiner Richtlinienkompetenz im Kabinett de facto keinen Gebrauch gemacht. Eppler gibt zu Bedenken, dass "in einer Großen Koalition die Minister relativ unabhängig agieren". So fehle dem Regierungschef praktisch die Möglichkeit, in die Ressorts des Koalitionspartners einzugreifen. Holger Börner sieht die Große Koalition unter Kiesinger "nicht im Kanzleramt geführt, sondern im Koalitionsausschuss der Koalitionsparteien". Seine Erfahrung damals: "Entscheidend ist nicht so sehr, wer den Kanzler stellt, sondern wer welches Ressort bekommt."



"Leere Kassen prügeln jede Koalition zur Vernunft"


Was halten die vier Sozialdemokraten von einer heutigen Großen Koalition? Erhard Eppler war damals Kritiker der Großen Koalition, "aus Angst vor einer Radikalisierung der Jugend", wie er sagt. "Und auch heute bin ich skeptisch. Aber ich sehe angesichts der Mehrheitsverhältnisse keine andere Möglichkeit." Das Problem der Großen Koalition heute sieht Eppler in Erwartungen, die nicht zu erfüllen seien, beispielsweise im Hinblick auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. "So ist eine nationale Konjunkturpolitik, wie sie die Regierung Kiesinger mit den Ministern Schiller und Strauss betrieben hat, heute angesichts der Globalisierung nicht mehr möglich." Albrecht Müller widerspricht: "Eine erfolgreiche nationale Konjunkturpolitik ist auch heute möglich. Das zeigen die Beispiele Großbritanniens, Österreichs und Schwedens."

Holger Börner ist - heute wie damals - für ein Bündnis von SPD und Union. "Ganz entscheidend ist die Föderalismusreform. Allein dafür lohnt sich schon die Große Koalition." Ulrich Pfeiffer hofft auf die Klugheit der Spitzenpolitiker: "Das Diktat der leeren Kassen prügelt die dümmste Koalition schon zur Vernunft." Die SPD habe keinen Grund, die Rolle des Juniorpartners zu fürchten. "Die Union ist heute wesentlich schwächer, als die SPD 1966 bei ihrem Wechsel von der Opposition in die Regierung. Die CDU steht heute quasi ohne Konzept da. Die Geschichte mit Herrn Kirchhof war doch ein Armutszeugnis."

Dass es nicht einfach wird in einer Großen Koalition, darin sind sich die Vier einig. Holger Börner hat deshalb - vorsorglich - einen Rat für die SPD: "Eine große Koalition, das bedeutet immer Kompromiss. Da kann man nicht nur Froschschenkel essen, da muss man mitunter auch ganze Kröten schlucken."

Lars Haferkamp

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