Geschichte

Fritz Steinhoff: Erster SPD-Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens

Er war der erste Proletarier an der Spitze eines Bundeslandes. Obwohl Fritz Steinhoff Nordrhein-Westfalen nur kurz regierte, prägte er das Land entscheidend. Vor 125 Jahren wurde er geboren.
von Lothar Pollähne · 27. November 2022
Erster SPD-Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens: Fritz Steinhoff (hier bei der Reiterolympiade 1956)
Erster SPD-Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens: Fritz Steinhoff (hier bei der Reiterolympiade 1956)

Der 20. Februar 1956 ist ein denkwürdiger Tag für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, auch wenn er aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist. Im nordrhein-westfälischen Landtag wird die Regierung des CDU-Ministerpräsidenten Karl Arnold durch das erste Misstrauensvotum in der bundesdeutschen Geschichte gestürzt. Die FDP beendet die Koalitionsregierung mit dem Zentrum und der CDU, die gemeinsam keine Mehrheit haben.

Mit dieser Aktion sendet der nationalliberale Kreis der FDP um den späteren Bundespräsidenten Walter Scheel ein deutliches Zeichen an Bundeskanzler Konrad Adenauer, der im Bundestag eine Wahlrechtsreform durchsetzen will; deren Inkrafttreten hätte die FDP marginalisiert. Nachfolger des in Nordrhein-Westfalen beliebten Karl Arnold wird am 20. November 1956 der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Fritz Steinhoff, der mit FDP und Zentrum eine Koalitionsregierung bildet und so vorübergehend die Zweidrittel-Mehrheit der CDU-regierten Länder im Bundesrat aufhebt.

Aufwachsen in ärmlichen Verhältnissen

Mit Fritz Steinhoff rückt zum ersten Mal ein Proletarier an die Spitze eines Bundeslandes. Geboren wird er am 23. November 1897 in Wickede vor den Toren Dortmunds als zweites von elf Kindern einer Bergmanns-Familie. Da der Vater an der Bergmanns-Krankheit „Augenzittern“ erkrankt und nur bedingt arbeitsfähig ist, lebt die Familie in ärmlichen Verhältnissen. Niemand muss daher Fritz Steinhoff erklären, was es bedeutet, von der eigenen Hände Arbeit kaum leben zu können. 1912 muss Steinhoff die Schule verlassen und arbeitet als Ackerknecht, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. 1915 geht er, wie sein Vater vor ihm, in den Pütt. Die Jahre „unter Tage“ bezeichnet Fritz Steinhoff später als „trostloseste Zeit“ seines Lebens. Dabei hat er den Einsatz im Weltkrieg noch vor sich. 1917 wird Steinhoff Heizer auf einem Torpedoboot.

Wie viele seiner Altersgenoss*innen radikalisiert sich Steinhoff während des Krieges. 1919 arbeitet er wieder als Bergmann und wird Mitglied des Bergarbeiter-Verbandes und der SPD. 1923 entsendet die Gewerkschaft den bildungshungrigen jungen Mann an die Akademie der Arbeit in Frankfurt/Main. Noch im selben Jahr setzt Fritz Steinhoff seine Ausbildung an der Deutschen Hochschule für Politik fort, in der er Kurse bei dem späteren ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss belegt.

1927 beginnt Fritz Steinhoff ein Volontariat bei der sozialdemokratischen „Westfälischen Allgemeinen Volkszeitung“ in Dortmund. Dort lernt er Fritz Henßler kennen, der für den jungen Mann zur väterlichen sozialdemokratischen Leitfigur wird. Steinhoffs parteipolitische Laufbahn beginnt 1928, als er Parteisekretär im SPD-Unterbezirk Hagen-Lüdenscheid wird. Die Stadt Hagen wird zu seinem Lebensmittelpunkt. Nach der für die SPD erfolgreichen Kommunalwahl avanciert Steinhoff zum ehrenamtlichen Stadtrat für Sport, Jugendpflege und Stadtgärtnereien.

Kurier für den den SPD-Exilvorstand

Die Nazis beenden 1933 vorerst die kommunalpolitische Karriere von Fritz Steinhoff. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich als Vertreter. Auf diese Weise kann er Kontakt zu Genossinnen und Genossen halten und Kurierdienste für den sozialdemokratischen Exilvorstand in Prag wahrnehmen. 1938 wird Fritz Steinhoff von der Gestapo verhaftet und schwer misshandelt. Am 12. Oktober des Jahres wird er wegen Hochverrats zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wird er im Zuge der „Aktion Gitter“ erneut verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verbracht. Dort trifft er wieder auf Fritz Henßler. Steinhoff wird seine Leben lang psychisch und physisch unter den Folgen der Lagerhaft leiden. Seine Zeit im KZ beschreibt er mit den Worten: „Mir ist es soweit ganz gut gegangen, aber was um einen vor sich ging, das war so schrecklich, dass diejenigen, die es nicht gesehen hatten, nicht glauben konnten.“

Fritz Steinhoff überlebt einen Todesmarsch und wird im Mai 1945 von US-Truppen in Mecklenburg befreit. Er kehrt nach Westfalen zurück und beteiligt sich am Wiederaufbau der SPD. Ende 1945 bitten ihn die Hagener Genoss*innen im Vertrauen auf seinen Bekanntheitsgrad, für das Amt des Oberbürgermeisters zu kandidieren. Das zahlt sich aus, denn obwohl die CDU 1946 überraschend die Gemeindewahl gewinnt, wählen die Stadtverordneten Fritz Steinhoff zum Oberbürgermeister. Das ist der Beginn seiner zweiten Karriere. Mit konsensorientiertem Geschick und etlichen Gläsern Bier und Doppelwacholder gelingt Steinhoff überparteilich die zügige Organisation des Wiederaufbaus der Stadt Hagen. Seine Erfolgsbilanz bleibt nicht unbemerkt. Von 1950 bis 1956 fungiert Fritz Steinhoff als Vorsitzender des nordrhein-westfälischen Städtetages.

Ein „Vertrauensmann des Reviers“

1946 wird Fritz Steinhoff mit einem Direktmandat im Wahlkreis Hagen I Abgeordneter im nordrhein-westfälischen Landtag. 1949 übernimmt er als Nachfolger des verstorbenen Ernst Gnoß das Amt des Landesministers für Wiederaufbau. In seiner nur einjährigen Amtszeit werden 125.000 Wohnungen gebaut und die Rahmenbedingungen für den Wiederaufbau der Städte entbürokratisiert. Diese Erfolge spiegeln sich in seinem parlamentarischen Renommee wieder. Nach der Landtagswahl von 1950 wählt die SPD-Fraktion Fritz Steinhoff zum Stellvertreter des Vorsitzenden Fritz Henßler. Als dieser im Dezember 1953 stirbt, „beerbt“ ihn Steinhoff in seinem Amt und als Vorsitzender des wichtigen SPD-Bezirks Westliches Westfalen. Der „Vorwärts“ beschreibt ihn treffend als „Vertrauensmann des Reviers“.

Mit seiner proletarischen Herkunft und seiner Leidensgeschichte während der Nazizeit steht Fritz Steinhoff für sozialdemokratische Kontinuität. Obwohl er kein großer, massenwirksamer Rhetoriker ist, zieht die SPD 1954 mit ihm als Spitzenkandidaten in den Landtagswahlkampf, gewinnt aber nicht genügend Stimmen und muss erneut auf den Oppositionsbänken Platz nehmen. Fritz Steinhoff bleibt Vorsitzender der SPD-Fraktion und bemüht sich um eine Koalition mit der siegreichen CDU. Die jedoch zieht ein konservatives Bündnis mit dem Zentrum und der FDP vor und stellt bis zum Misstrauensvotum vom 20. Februar 1956 mit Karl Arnold den Ministerpräsidenten.

Vom Ministerpräsidenten zum Auslaufmodell

Dass die politisch eher gegensätzlichen Parteien SPD, Zentrum und FDP eine gemeinsame Regierung bilden können, liegt vor allem an Fritz Steinhoffs kompromiss-orientiertem Regierungsstil. Erfolge der Regierung Steinhoff in der Wohnungsbau- und Bildungspolitik schlagen bei der Landtagswahl 1958 nur bedingt zu Buche. Obwohl die SPD ihren Stimmenanteil um fünf Prozentpunkte erhöhen kann, gewinnt die CDU die absolute Mehrheit. Fritz Steinhoff wird zwar wieder Fraktionsvorsitzender, hat aber mit seiner Konsenspolitik nur noch wenig Erfolg. In der SPD weht spätestens seit dem Godesberger Parteitag von 1959 mit der Person Willy Brandts der Wind des Aufbruchs. Der Proletarier Fritz Steinhoff wird zum auslaufenden Modell.

In Hagen wird Steinhoff jedoch weiterhin geschätzt. 1961 zieht er als direkt gewählter Abgeordneter in den Deutschen Bundestag ein und 1963 wird er noch einmal zum Oberbürgermeister gewählt. Das Amt muss er ein Jahr später aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. 1965 kann Steinhoff abermals in den Bundestag einziehen, bleibt aber — wie schon in der voraufgegangenen Wahlperiode — auf der Hinterbank. Am letzten Tag seiner Mandatszeit, dem 22. Oktober 1969, stirbt Fritz Steinhoff in seiner Heimatstadt Hagen. „Er war einer der Baumeister unseres Landes“. Mit diesen Worten beschrieb Heinz Kühn, der spätere zweite sozialdemokratische Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, in seiner Traueransprache zutreffend seinen Amtsvorgänger Fritz Steinhoff.

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