Geschichte

Friedliche Revolution: Wie die AfD die Erinnerungen an 1989 ausnutzt

1989 gingen die Menschen in der DDR für die Demokratie auf die Straße. In ihr angekommen sind viele noch nicht. Die intelligenteren Köpfe bei Pegida und in der AfD nutzen das für ihre Zwecke aus.
von Christina Morina · 3. Juni 2019
„Wir sind das Volk!“ – Der Schlachtruf der Friedlichen Revolution 1989 wird von rechten Gruppierungen bewusst umgedeutet, um an die Widerstandstradition in Ostdeutschland anzuknüpfen, hier bei einer Demonstration in Cottbus am 1. Juli 2018.
„Wir sind das Volk!“ – Der Schlachtruf der Friedlichen Revolution 1989 wird von rechten Gruppierungen bewusst umgedeutet, um an die Widerstandstradition in Ostdeutschland anzuknüpfen, hier bei einer Demonstration in Cottbus am 1. Juli 2018.

Die Revolution von 1989 hat keine Kinder, sondern mündige Bürgerinnen und Bürger entlassen – im Osten. Im Westen, wo die Leute schon lange mündig waren – oder zumindest sein durften –, führte sie zu viel Verwunderung und deutlich weniger Euphorie. Das damit erst beginnende Ende der deutschen Teilung war von Anfang an ein ebenso aufregender wie schwieriger gesellschaftlicher Prozess. Wir stehen noch immer mitten in diesem Prozess, denn nicht schon, sondern erst eine Generation ist seither vergangen.

Zusammenrücken statt Zusammenwachsen

Das „Zusammenwachsen“, von dem Willy Brandt damals sprach, war eine Zukunftsutopie, die das Unmögliche verhieß: eine nationale Harmonie, die es nicht nur niemals zuvor gegeben hat, sondern die auch merkwürdig quer lag zum Selbstverständnis der alten Bundesrepublik als pluraler und hoch ausdifferenzierter Gesellschaft. Wohl nicht zufällig sprach Brandt aber in jener Zeit viel häufiger – und realistischer – vom „Zusammenrücken“.

Heute, fast drei Jahrzehnte später, stellt sich die Frage, inwiefern die „Vereinigungskrise“, wie sie der Historiker Jürgen Kocka genannt hat, der neunziger Jahre in eine Demokratiekrise geführt hat, die mit dem Aufstieg der AfD und der beispiellosen Polarisierung von Politik und Gesellschaft seit 2015 manifest geworden ist. Die „Lage“ in Ostdeutschland spielt dabei eine besondere Rolle, eine besonders beunruhigende. Doch die Mischung aus Sorge, Abwehr und Anbiederung, mit der darüber diskutiert wird, ist nicht nur nicht hilfreich, sondern geradezu ein Ausweis von Hilflosigkeit.

Desinteresse in Ost und West

So wird viel über die Enttäuschungen, die vermeintlich vergessenen „Leistungen“ und das Bedürfnis nach „Anerkennung“ in den ostdeutschen Ländern gesprochen – wieder, muss man sagen. Seit 1989 hat es einen niemals versiegenden Strom an persönlichen Erzählungen, Sonntagsreden, Fach- und Zeitungstexten, Romanen und Filmen gegeben, in denen die Erfahrungsgeschichte(n) der Ostdeutschen seit dieser Zäsur thematisiert worden sind. Manchmal polemisch und diffamierend, ja, aber sehr häufig auch differenzierend, einfühlsam und anerkennend.

Daran mangelte es also nicht. Es mangelte oft auch durchaus nicht an empathischem Verständnis-Willen. Eher sollte man zugestehen, dass ein gewisses Desinteresse West an ostdeutschen Lebensgeschichten im Osten in einer mindestens ebenso großen Indifferenz gegenüber „rein“ westdeutschen Erfahrungen und Traditionen seine Entsprechung hatte und bis heute hat.

Tiefer Einschnitt in der deutschen Demokratiegeschichte

Doch jenseits dieser Anerkennungs- und Defizitdiskurse mangelt es an politischem Verständnis-Willen. Es fehlt ein analytisches Interesse an den historisch gewachsenen Selbstverständnissen der Leute als „Bürger“, an ihren Grundüberzeugungen im Hinblick auf ihren persönlichen Platz in einer größeren, „demokratisch“ verfassten „Zivilgesellschaft“ und ihren Erwartungen und Einstellungen gegenüber „dem Staat“ und dessen normativen Grundlagen. Die vielen Anführungszeichen deuten an, dass die Kernbegriffe, um die es in diesem innerdeutschen Dauerselbstgespräch geht, allzu oft mehrdeutig sind oder unklar bleiben. Damit fördern sie nicht Verständnis, sondern Missverständnis.

Das haben nicht zuletzt die intelligenteren Köpfe bei Pegida und in der AfD verstanden. Oder sie haben es zumindest verstanden, sich diesen Umstand zunutze zu machen. Ihr Erfolg – nicht nur, aber übermäßig stark im Osten – markiert einen tiefen Einschnitt in der deutschen Demokratiegeschichte. Mit der Anknüpfung an diverse Bürgerbewegungs- und Widerstandstraditionen – wobei zentrale Begriffe wie „Bürger“, „Widerstand“, „Volk“ bis hin zu „Wir sind das Volk“ systematisch umgewertet werden – sowie an autoritär-plebiszitäre Politikentwürfe, haben sie es geschafft, Nichtwähler, Protestwähler und „gutbürgerliche“ Wähler zu mobilisieren – in Zahlen, die dieser systemskeptischen und teils gar systemfeindlichen „Volksbewegung“ eine ungeahnte Wucht verschaffen.

Die AfD befriedigt Zugehörigkeitsbedürfnisse

Diese Entwicklung ist nur aus einer deutsch-deutschen Perspektive zu verstehen. In der in der Mitte salonfähig gewordenen „Neuen Rechten“ sind ost- und westdeutsche Traditionen auf eine Weise zusammengewachsen, die sich fundamental von jener Utopie unterscheidet, die Brandt 1989 im Sinne hatte. Zugleich befriedigt die AfD in ihrer politischen Kommunikation, Programmatik und Parteiarbeit vor Ort gerade in Ostdeutschland sehr spezifische Partizipations- und Zugehörigkeitsbedürfnisse, die in einem auf repräsentativdemokratische Verfahren bauenden Gemeinwesen bisher zu wenig Beachtung bzw. Anschluss finden. Erfahrungen mit und Erinnerungen an 1989 spielen in dieser Gemengelage eine zentrale, sehr ambivalente Rolle. Sie sind einerseits bleibende Lichtpunkte in der deutschen Demokratiegeschichte. Andererseits werfen sie aber auch lange und mancherorts wirklich dunkle Schatten.

Autor*in
Christina Morina

ist Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld und Mitglied des Geschichtsforums der SPD.

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