Geschichte

Fluch oder Segen? So kam die SPD in die ungeliebte große Koalition

Die SPD wird in diesem Jahr 160 Jahre. Wir blicken zurück auf wichtige Ereignisse: 2005 beginnt die große Koalition mit der SPD als Juniorpartner von CDU-Kanzlerin Angela Merkel.
von Lars Haferkamp · 5. Mai 2023
Sie führen die SPD 2005 in die große Koalition: der scheidende Kanzler Gerhard Schröder (l.) und der Parteivorsitzende Franz Müntefering.
Sie führen die SPD 2005 in die große Koalition: der scheidende Kanzler Gerhard Schröder (l.) und der Parteivorsitzende Franz Müntefering.

Es ist Sonntag, der 22. Mai 2005. In Nordrhein-Westfalen sind Landtagswahlen. Die SPD hat verloren, die CDU gewonnen. Doch die politische Bombe wird an diesem Wahlabend nicht in Düsseldorf hochgehen, sondern in Berlin. Um 18.30 Uhr geht SPD-Chef Franz Müntefering im Willy-Brandt-Haus vor die Presse und verkündet: Die SPD will Neuwahlen zum Bundestag.

Die Begründung von Kanzler Schröder: Nach dem „bitteren Wahlergebnis“ in NRW sieht er „die politische Grundlage“ für seine Arbeit „in Frage gestellt“. Er wolle deshalb durch eine Neuwahl „eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen“ für seine Politik. Gemeint ist die auch in der SPD äußerst umstrittene „Agenda 2010“, die tiefgreifende Reform des Arbeitsmarktes.

Die SPD im Schockzustand

Die SPD ist geschockt. Erst ihr Stammland NRW an die CDU verloren und nun Neuwahlen im Bund – in der Partei wird das Schlimmste befürchtet. Die Umfragen sind verheerend. Die SPD stürzt ins Bodenlose, während die Union sich mit deutlich über 40 Prozent sogar Hoffnungen auf eine absolute Mehrheit im nächsten Bundestag machen kann. Wie soll die SPD in wenigen Monaten diese Stimmung noch drehen?

Mit einem professionellen und engagierten Wahlkampf, mit einer geschlossenen und motivierten Partei. Nachdem sich der erste Schock gelegt hat, macht sich die SPD an die Arbeit. „Vertrauen für Deutschland“ ist ihr zentraler Slogan und genau darum geht es in diesem Wahlkampf: Wem trauen die Deutschen zu, das Land gut zu regieren? Der SPD und Gerhard Schröder oder Angela Merkel und der Union?

Die Union führt in allen Umfragen

Da die SPD in den Umfragen weit abgeschlagen ist und sämtliche Beobachter*innen mit einer CDU-geführten Regierung unter Merkel rechnen, fokussiert sich der Wahlkampf auf die Union. Die steht plötzlich im Mittelpunkt der Kritik. So die Ankündigung Merkels, die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Oder das von der SPD als unsozial und neoliberal kritisierte Steuerkonzept der Union von Paul Kirchhof.

Die SPD holt in den Umfragen auf, aber kurz vor der Wahl sehen die Institute die Union weiter vorn, mit bis zu über 10 Prozent. Dann kommt der Wahltag, der 18. September 2005. Und wieder platzt um 18 Uhr eine politische Bombe in Berlin: SPD und Union sind nahezu gleichauf, Schwarz-Gelb hat keine Chance auf eine Mehrheit im Bundestag. Eine Sensation, mit der kaum jemand gerechnet hatte.

Schröders berühmter TV-Auftritt

Euphorisch geht Bundeskanzler Schröder in die „Elefantenrunde“ von ARD und ZDF und unterstreicht den Führungsanspruch der SPD: „Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel – bei dieser Sachlage – einginge, indem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden? Ich meine, wir müssen die Kirche doch auch mal im Dorf lassen.” Für Schröder ist an diesem Abend klar, „dass niemand außer mir in der Lage ist, eine stabile Regierung zu stellen, niemand außer mir“.

Doch es soll anders kommen. CDU und CSU liegen am Ende mit 35,2 Prozent knapp vor der SPD mit 34,2 Prozent. Schließlich finden sich beide Parteien zur großen Koalition zusammen. Angela Merkel wird Kanzlerin, Frank-Walter Steinmeier Vizekanzler und Außenminister, Peer Steinbrück Finanzminister, Franz Müntefering Arbeitsminister, Ulla Schmidt Gesundheitsministerin, Sigmar Gabriel Umweltminister. Die SPD glaubt, in einer guten Ausgangslage zu sein. Doch alles, was der Regierung gelingt, wird der populären Kanzlerin zugeschrieben, nicht der SPD, obwohl es sich um viele wichtige Projekte der Sozialdemokratie handelt. Vier Jahre später sind die Folgen dramatisch. Bei der Bundestagswahl 2009 stürzt die SPD um 11,2 Prozent ab und landet in der Opposition. Schwarz-Gelb regiert.

Nie wieder große Koalition?

Niemand in der Partei möchte angesichts dieser traumatischen Erfahrung noch einmal als Juniorpartner in eine große Koalition eintreten. Doch wieder wird es anders kommen. Bei der Wahl 2013 erholt sich die SPD. Diesmal ist es die FDP, die als Juniorpartner der Union abgestraft wird und den Einzug in den Bundestag verfehlt. Die Folge: Erneut bildet sich eine große Koalition. SPD-Chef Sigmar Gabriel kennt die Sorgen seiner Partei davor. Er setzt erstmals ein Mitgliedervotum an über den Koalitionsvertrag mit der Union. Über 70 Prozent der Parteimitglieder stimmen ab, davon gut drei Viertel mit Ja.

Doch wieder honorieren die Wähler*innen die Regierungsbeteiligung der SPD nicht. Bei der Wahl 2017 kommt die Partei mit nur noch 20,5 Prozent auf ihr schlechtestes Wahlergebnis. Der Kurs ist nun klar: Opposition. So hatte es die Partei im Wahlkampf angekündigt. Doch dann scheitern plötzlich völlig unerwartet die Koalitionsverhandlungen von Union, Grünen und FDP. Damit Deutschland regierbar bleibt, erklärt sich die SPD bereit, zum dritten Mal in eine ungeliebte große Koalition unter Merkel einzutreten. Wieder gibt es ein Mitgliedervotum. Diesmal stimmen zwei Drittel für den Eintritt in die Groko.

Im Jahr 2021 wird alles anders

Dann kommt das Jahr 2021: Angela Merkel tritt nicht mehr an. Die Union geht mit dem wenig populären Armin Laschet als Spitzenkandidat in die Wahl, die SPD mit ihrem erfahrensten Minister Olaf Scholz. Während Laschet einen Fehler nach dem anderen macht, punktet Scholz. Diesmal hat die SPD den Kandidatenvorteil auf ihrer Seite. Sie wird vor der Union stärkste Partei, Olaf Scholz Kanzler einer Ampel-Koalition mit Grünen und FDP. Die SPD hat es geschafft: Die ungeliebten großen Koalitionen liegen hinter ihr, nun führt sie als stärkste Partei mit ihrem Kanzler die Geschicke Deutschlands.

node:vw-infobox

Schlagwörter
Autor*in
Lars Haferkamp
Lars Haferkamp

ist Chef vom Dienst und Textchef des vorwärts.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare