Geschichte

Exil-Sozialdemokraten: Wie Fritz Heine die Flucht aus dem besetzten Frankreich organisierte

Nach dem Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich im Sommer 1940 sollten tausende Nazi-Gegner*innen ans Deutsche Reich ausgeliefert werden – unter ihnen auch viele Sozialdemokrat*innen. Fritz Heine organisierte ihre Flucht.
von Klaus Wettig · 12. November 2020
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„Laufen, laufen, laufen“, hieß der Rat an die deutschsprechenden Emigranten in Frankreich nach dem Waffenstillstand am 22. Juni 1940 in Compiegne. Der zwischen dem Deutschen Reich und der französischen Regierung abgeschlossene Vertrag sah nämlich in der Ziffer 19 vor, dass die fortan in Vichy residierende Regierung Restfrankreichs alle Deutschsprechenden an das Deutsche Reich ausliefert, die ihr Nazi-Deutschland auf Listen benennt.

Es sollte keine Unterschiede geben zwischen Deutschen aus dem Deutschen Reich, oder Österreichern aus der ehemaligen Republik Österreich, oder Sudentendeutschen, oder Deutschen, die aus Polen nach Frankreich emigriert waren. Die Nazi-Regierung nahm zu Recht an, dass es sich bei dieser Gruppe überwiegend um Nazi-Gegner handeln müsse. Hinzu sollten die jüdischen Emigranten kommen, die vor den nationalsozialistischen Verfolgungen geflohen waren, die den Diskriminierungen der Nürnberger Gesetze entfliehen wollten. Viele warteten in Frankreich auf Passagen in sichere Fluchtländer. Nun saßen sie in der Falle Frankreich.

Hitlergegner*innen und Nazi-Anhänger*innen im selben Lager

Die von der Gestapo vorbereiteten Listen entfalteten wegen der unbeabsichtigten Vorarbeit der französischen Regierung nach Kriegsbeginn 1939 jetzt eine fatale Wirkung. Die französische Regierung hatte nach Kriegsbeginn begonnen, sämtliche Deutschsprechenden zu internieren: unterschiedslos wurden Hitlergegner*innen, politisch Neutrale und Nazi-Anhänger*innen in Internierungslagern in jedem Departement versammelt. Das Militär übernahm die Überwachung, überwiegend ältere Reservisten.

Frankreich war bis dahin ein sicheres Zufluchtsland gewesen. Man schätzt, dass mehr als 100.000 Hitlerflüchtlinge über Frankreich ihren Weg in andere Länder genommen haben. Die Regierung duldete diese Flucht. Über die Häfen Calais, Cherbourg und Marseille gelang die sichere Weiterreise. Auch der unbegrenzte Aufenthalt war möglich, wenn auch keine Unterstützung bewilligt wurde und Arbeit in dem noch unter der Weltwirtschaftskrise leidenden Land verboten war. Die Exilorganisationen wurden geduldet. Angesichts der starken französischen Armee glaubte man sich sicher vor den Nazi-Verfolgungen.

Interniert als „feindliche Ausländer“

Das Erschrecken war also groß, als die unterschiedslose Internierung begann: Mit Verordnung vom 5. September 1939 wurde verlangt, dass sich die „feindlichen Ausländer“ (sujets enemis) in Internierungslagern zu melden hatten. Zunächst waren nur Männer betroffen, die auf 30 bis 35 Lager verteilt wurden. Die Mitglieder des SPD-Exilvorstandes und ihre Mitarbeiter waren von der Internierung befreit, da sie auf einer Liste internationaler Antifaschisten des Innenministeriums standen. Diesen Schutz genossen jedoch Tausende von Sozialdemokraten nicht, die sich bis Kriegsbeginn in Frankreich sicher fühlten. Im Mai 1940 entfiel auch der Schutz für die Mitglieder des SPD-Exilvorstandes, nun wurden auch sie als „feindliche Ausländer“ interniert.

Während der überlebende Vorsitzende Hans Vogel – Otto Wels war 1939 verstorben – erreichte, dass einige Vorstandsmitglieder und Mitarbeiter*innen freigelassen wurden, versuchten andere die Flucht nach Süden, in das von der Wehrmacht besetzte Vichy-Frankreich in Eigeninitiative. Je näher die Wehrmacht rückte, umso schneller wurden die Internierungslager durchlässig. Flucht war möglich, wurde hingenommen. Auch die französischen Wachmannschaften setzten sich ab. Die Reservisten zog es in ihre Heimat, um der Kriegsgefangenschaft zu entfliehen.

Die Flucht vor Hitler zog sich im Juli/August 1940 über Wochen hin: zwischen den Flüchtlingstrecks der Franzosen, stehts in Gefahr als feindliche Ausländer*innen entdeckt zu werden, häufig von den deutschen Panzerspitzen erreicht, fast ohne Lebensmittel.

Fritz Heine als Organisator der Flucht

Trotz außerordentlicher Schwierigkeiten konnte sich der SPD-Exilvorstand mit einigen Mitarbeiter*innen in Toulouse und Umgebung versammeln und von dort die weitere Flucht vorbereiten. Diese Aufgabe übernahm Fritz Heine, der nach Marseille geschickt wurde, dem Zentrum der internationalen Hilfsorganisationen. Fritz Heine organisierte dort über das Emergency Rescue Committee (ERC) die Flucht von Hunderten. Legal und illegal mussten Visa beschafft werden: Ausreisevisa aus Frankreich, Durchreisevisa für Spanien und Portugal. Bestechungsgelder waren nötig, damit ungültige Pässe wieder gültig wurden. Bahnfahrten und Schiffspassagen mussten finanziert werden. Und für das Überleben sollte das Geld auch noch reichen.

Fritz Heine vollbrachte eine außerordentliche Leistung in der Visa- und Geldbeschaffung. Trotz einer immer dichter werdenden Verfolgung durch die Vichy-Polizei, trotz der erhöhten Präsenz der Gestapo, die ab September 1940 ihre Anfangsprobleme gelöst hatte und nun die Verfolgungslisten abarbeitete.

Nicht alle konnten fliehen

Als die meisten aus dem Exilvorstand mit ihren Familien und Mitarbeitern den Fluchtort Lissabon erreicht hatten, von dort war die weitere Flucht in die USA, nach Großbritannien und in südamerikanische Staaten möglich, wenn ein Visum erlangt werden konnte, verließ Fritz Heine seinen Posten Marseille Ende Februar 1941.

Was Fritz Heine gelang, was er für Hunderte organisierte, half nicht allen Hitler-Gegnern. Die Vichy-Regierung sammelte die deutschen Flüchtlinge, jetzt in der Mehrzahl deutsche Jüd*innen, in vier großen Internierungslagern: Gurs, Les Milles, Le Vernet und Rivesaltes. Von dort war die Flucht fast unmöglich, gelang sie, musste der Weg über die Pyrenäen gewählt werden, was tapfere Fluchthelfer*innen ermöglichten. Später wurden diese Wege zu Freedom Trails, auf denen abgeschossene alliierte Flieger*innen über Spanien nach Portugal geschleust wurden. Gurs, Les Milles und Rivesaltes sind heute ausgebaute Gedenkstätten, um Le Vernet müsste sich die Gedenkstättenkommission kümmern. Vor Jahrzehnten hat sich die DDR um Le Vernet bemüht.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

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