Erinnerungen an den Mauerfall vor 25 Jahren
Mein 9. November war ein glücklicher – verglichen mit den bekannten historischen Vorgängern seit 1848. Weil ich nur ein paar Straßen von der Stelle wohnte, an der es passierte, am Grenzübergang Bornholmer Straße, war es nicht schwer, dabei zu sein.
Am Tag war ich in Hennigsdorf, arrangierte dort ein Treffen mit Mitgliedern des dortigen Bürgerkomitees. Ich nahm einen Journalisten aus New York mit. Gegen 21 Uhr aßen der Journalist und ich noch etwas in der Gaststätte bei uns um die Ecke in Pankow. Zu Hause war ich gegen 22 Uhr. Da rief ein Freund an und erzählte, dass alle Welt zum Grenzübergang Bornholmer fahre. Er sagte etwa: „Die lassen jetzt den Dampf aus dem Kessel. Was soll nun werden?“
Alle Welt sprach von einem Wunder
Die Kinder waren schon im Bett. Meine Frau und ich nahmen das Rad und fuhren an einer Autoschlange vorbei bis an den Zaun, an dem sich immer mehr Menschen sammelten. Alle warteten auf etwas. Bevor das Tor geöffnet wurde, gab es Sprechchöre der Wartenden. Nicht aggressiv, in gewisser Weise verständnisvoll, schließlich einen Handel anbietend: „Wir kommen wieder!“ Das fand ich unglaublich. Das hieß entweder, wenn nicht heute, dann morgen – oder wir kommen zurück, ihr braucht uns nicht mehr zu bewachen! Das war, souverän, als hätten wir schon gewonnen. Das Tor ging auf.
Alle Welt sprach dann von „Wunder“ und „Wahnsinn“. Heute gehört zur Feier des Tages unvermeidlich die Frage, was man am späten Abend des 9. November gerade getan hat. Weil die Frage inzwischen jedem und jeder gestellt wird und bei der Antwort nicht wichtig ist, wo man war, sondern was einem dazu einfällt, geht es längst um ein Bekenntnis. Ob dabei oder nicht dabei gewesen, wie man dazu steht, darauf kommt es an. Manche schließen daraus auf die Einstellung des- oder derjenigen zur deutschen Einheit.
Es sind Bilder, die die Deutung des Mauerfalls und der Ereignisse von 1989 bestimmen, Bilder von Ostdeutschen, die im Sommer 1989 durch die offene Grenze in Ungarn in den Westen fliehen, die Verkündigungsszene Genschers vom Balkon der Prager Botschaft und schließlich das Finale, die überwältigende Ost-West-Begegnung und Vereinigung auf der Berliner Mauer.
Mauerfall war nicht geschenkt
Die Botschaft des Jahres 1989 liest sich demnach so: Wir wollen raus! Der Mauerfall wird aus dieser Perspektive mit der Vereinigung im Westen eins. Beim zehnjährigen Jubiläum 1999 kam es so weit, dass das offizielle Gedenken des Mauerfalls schon zu einer Zehn-Jahres-Feier der deutschen Einheit geriet, die eigentlich erst im Jahr 2000 fällig war.
Das Ereignis von 1989 war im Ergebnis von 1990 aufgegangen. Nur ein riesiges schwarzes Plakat mit weißen Lettern am Alexanderplatz erinnerte über einige Wochen an das Geschehen: „Wir waren das Volk“. Vergessen wird, dass nichts geschenkt war, der Mauerfall nicht und der Ausgang war auch noch nicht beschlossen. Vergessen die Zeit vor dem 9. November, die Demonstrationen, die das Regime zuvor unter Druck gesetzt hatten, wie auch das Jahr bis Oktober 1990, in dem es um Demokratie in der DDR und die Freiheit ging, die der Vereinigung vorausgehen musste.
So war der 9. November 1989 ein Datum innerhalb dieses Prozesses, allerdings ein besonderes. Es war wie die Vorwegnahme eines Resultates, der Sonntag der Revolution. Glich die vor den Absperrungen versammelte Menge noch einer politischen Demonstration, so verwandelte sich der durch die Grenzanlagen drängende Menschenstrom auf der anderen Seite in eine Festgesellschaft.
Es bleibt ein Überschuss an Hoffnung
Man war, wo man stand, schon angekommen. Mitten in der Bewegung mochte einen der Wunsch, in diesem Augenblick einen Nahestehenden bei sich zu haben, zur Rückkehr verleiten oder wenigstens das nächste Telefon suchen lassen. Meine Frau und ich kehrten, auf der Bornholmer Brücke im Getümmel stehend, wieder um, um unsere zu Hause im Osten schlafenden Kinder zu holen. Wir sagten ihnen, dass gerade Geschichte passiere und mussten ihnen versprechen, dass sie ein italienisches Eis bekommen, beim ersten Italiener in Westberlin. Das war bei „Sara“ an der Ecke Osloer-Prinzenstraße. Den Eisladen gibt es heute noch. Dort feierten wir einen weltgeschichtlichen Durchbruch mit Eis für die Kinder und lauter lauten neuen Nachbarn.
Die Erinnerung an das wirkliche Geschehen finde ich immer noch überwältigend. Es bleibt ein Glück und ein Überschuss an Hoffnung, der Glaube an das Mögliche, das jede Zeit in sich hat, jenseits der Realitäten. Das können wir auch heute und in Zukunft gebrauchen.
Lesen Sie hier ein Interview mit Riccardo Ehrman. Er gab am 9. November 1989 das entscheidende Stichwort auf der Pressekonferenz, die den Mauerfall einläutete.
In den 80er Jahren engagiert in der Oppositionsgruppe Pankower Friedenskreis, im Herbst 89 bei der Gründung der SDP. 1990 für die SPD in der Volkskammer und Regierung, 1991-99 in der Landesregierung Brandenburg, seit 1999 im Parteivorstand u.a. als Sekretär der Grundwertekommission.