Heinz Jercha starb im Alter von 27 Jahren. Ein Stasi-Mitarbeiter erschoss den Fluchthelfer am 27.03.1962, als er Ostberlinern durch einen Tunnel in die Freiheit verhelfen wollte. Genau 50 Jahre später widmet ihm der Verein „Berliner Unterwelten“ eine Gedenktafel.
Dass die Heidelberger Straße zwischen Neukölln und Treptow nach dem Mauerbau 1961 den Schwerpunkt der Fluchttunnelbauten darstellt, ist heute nur schwer vorstellbar. Am 27. März 2012 wurde nun an der Heidelberger Straße 35 eine bronzene Gedenktafel für den Westberliner Fluchthelfer Heinz Jercha angebracht. Thomas Blesing (SPD), Bezirksstadtrat von Neukölln, bezeichnet die Enthüllung der Gedenktafel als Festakt. „Die Tafel soll nicht nur an Heinz Jercha erinnern. Sie steht auch stellvertretend für alle Fluchthelfer, die anderen in die Freiheit verhelfen wollten, es aber nicht geschafft haben.“
Der Drang nach Freiheit
Heinz Jercha schloss sich im Frühjahr 1962 als 27-Jähriger einer Fluchthilfegruppe um Harry Seidel an, dem bis dato aktivsten Fluchthelfer. Am 7. März 1962 begannen sie in einem Keller des Hauses an der Heidelberger Straße 35 in Westberlin mit dem Bau eines Tunnels zum gegenüberliegenden Haus an der Heidelberger Straße 75 in Ostberlin. Es waren hauptsächlich ideelle Gründe, die Jercha zur Fluchthilfe trieben, immerhin war er vor dem Mauerbau selbst von Ost- nach Westberlin geflüchtet. Nur etwa vier Meter trennte die Häuserreihe von der Berliner Mauer. „Das war wahrscheinlich der Grund, warum diese Straße zu einer Hochburg des Tunnelbaus wurde“, sagt Jürgen Dill, ehemaliger Fluchthelfer.
Fluchthilfe unter erschwerten Bedingungen
Schraubenzieher und Löffel seien die biederen Hilfsmittel der Fluchthelfer, mit welchen sie den Beton von den Ziegelsteinen der Hausmauer kratzten, um sie langsam entfernen zu können, sagt Blesing. Aber auch Pressluftflaschen seien für den Tunnelbau unabdingbar gewesen, immerhin gab es in dem engen Tunnel keine Sauerstoffzufuhr. Den Sand und die Erde, die man aus dem Tunnel schaufelte, konnten die Fluchthelfer auch nicht aus dem Keller heraus transportieren, sonst wäre die Aktion vielleicht aufgeflogen, stellt der Vorsitzende der „Berliner Unterwelten“ Dietmar Arnold klar. Weiter erschwert wurde die Aktion durch Spitzel der Sozialistischen Einheitspartei Westdeutschlands (SEW), die im zweiten Stock des Hauses wohnten. „Es durfte niemand was hören“, sagt Arnold.
Trotz der ungünstigen Verhältnisse stellte die Fluchthelfergruppe den Tunnel am 22. März fertig. Bis zum 24. März konnten die Fluchthelfer etwa 55 DDR-Bürgern in die Freiheit verhelfen. Die Stasi erfuhr aber sehr schnell von den Fluchten. Jercha und Seidel mussten sich nämlich einem Ostberliner Bewohner des Hauses Nummer 75 anvertrauen. Bei ihm holten sie den Schlüssel für die Wohnung, in der die Flüchtlinge warteten. Von diesem IM „Naumann“, wie ihn die Stasi führte, wurden sie letztendlich verraten.
Kugel war nicht für Jercha bestimmt
Die Aufgabenverteilung zwischen Jercha und Seidel war klar. Jercha wartete am Ende des Fluchttunnels auf Seidel, der die Flüchtlinge in der Wohnung des Hauses Nummer 75 abholte. „Immer gehst du, jetzt lass mich mal“, hatte Jercha zu seinem Freund Seidel am Abend des 27. März gesagt, erinnert sich der 73-Jährige, der als letzter Überlebender des Jercha-Tunnels bei der Enthüllung der Gedenktafel anwesend war. Kaum war Jercha an der Wohnung von IM „Naumann“ angelangt, warteten bereits die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mit ihren Kalaschnikows auf den Fluchthelfer.
Als der Kugelhagel begann, konnte Jercha zwar noch in den Keller und durch den etwa 18 Meter langen Fluchttunnel zurück nach Westberlin flüchten, allerdings traf ihn ein Querschläger direkt durch den Rücken in die Lunge. „Die Kugel war für mich bestimmt“, sagt Seidel, der für das Abholen der Flüchtlinge verantwortlich war. Die Wehmut um das Schicksal seines Freundes sieht man ihm noch heute an. Jercha hatte keine Überlebenschance. Im Westberliner Keller angekommen konnte der Familienvater noch in den Hausflur robben, bevor er zusammenbrach und schließlich verstarb.
„Es war der Drang nach Freiheit, der die Fluchthelfer veranlasste, unter Einsatz ihres Lebens die Tunnel zu graben“, stellt Arnold fest. „Wir waren uns den Risiken unserer Aktionen jederzeit bewusst“, sagt Dill. Heute sind noch drei Eingänge von Fluchttunneln in der Heidelberger Straße erhalten. Sie können bei Führungen des Vereins „Berliner Unterwelten“ besichtigt werden. Die Gedenktafel für Heinz Jercha stellt also mehr dar, als die Erinnerung an einen erschossenen Fluchthelfer. Blesing hält fest: „Sie erinnert auch an die Zeit zwischen 1961 und 1989, eine Zeit der Teilung Berlins in Ost und West und eine Teilung Berlins zwischen Neukölln und Treptow.“
Romy Hoffmann ist Studentin der Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Regensburg. Im Frühjahr 2012 absolvierte sie ein Praktikum in der Redaktion des vorwärts.