Die SPD feiert in diesem Jahr ihren 150. Geburtstag. Nur 30 Jahre jünger ist ihre Schwesterpartei, die Polnische Sozialistische Partei (PPS). Anlässlich der runden Jubiläen sprach der britisch-polnische Soziologe Zygmunt Bauman auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung In Breslau über Vergangenheit und Zukunft der Sozialdemokratie in Europa.
Im Mai hat die SPD ihr 150-jähriges Jubiläum gefeiert. Nur wenige Monate zuvor, im November 2012 ist die Polnische Sozialistische Partei (PPS) 120 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat das Archiv der Sozialen Demokratie (AdSD) der Friedrich-Ebert-Stiftung im Frühjahr 2013 eine polnischsprachige Ausstellung unter dem Titel: „Leitbild Lassalle. Sozialdemokratie in Polen und Deutschland“ erstellt. Am 22. Juni wurde sie in Breslau, der Geburtsstadt Ferdinand Lassalles. eröffnet.
Um auch in die Zukunft zu blicken, organisierte die Friedrich-Ebert-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Breslauer Ferdinand-Lassalle-Zentrum und der Universität Wrocław vor der Ausstellungseröffnung eine etwa zweistündige Podiumsdiskussion mit Zygmunt Bauman. Unter dem Titel „Sozialdemokratische Dilemmata. Von Lassalle zur flüchtigen Moderne“ reflektierte der renommierte britisch-polnische Soziologe vor etwa 500 Zuhörern den Weg, den die deutsche und die europäische Sozialdemokratie seit ihrer Gründung zurückgelegt haben, um anschließend einige Überlegungen zur Gegenwart und Zukunft der Sozialen Demokratie anzustellen.
Überschattet wurde der Beginn der Veranstaltung von einem Polizeieinsatz, der nötig wurde, da etwa 80 Rechtsradikale den Ablauf der Veranstaltung durch das Skandieren rechtsextremer, antisemitischer und antikommunistischer Parolen zu verhindern versuchten. Die Veranstaltung jedoch konnte nach dem umsichtigen Einschreiten der Polizei ohne weitere Zwischenfälle fortgesetzt werden.
Sieg der konservativ-bürgerlichen Erzählung
Das sozialdemokratische Jubiläum, so Bauman, sei kein rundherum heiteres, da es um die Sozialdemokratie in Europa derzeit nicht gut bestellt sei. Dies läge vor allem daran, dass sich die europäische Linke in den vergangenen Jahrzehnten zu sehr von den Debatten und Denkmustern der Rechten habe beeinflussen lassen anstatt – wie noch zu Lassalles Zeiten – eigene und nicht immer Mainstream konforme Antworten zu suchen. Auf diese Weise habe die konservativ-bürgerliche Erzählung gesiegt, die nun den öffentlichen Diskurs in ganz Europa dominiere.
Insbesondere an drei Punkten machte Bauman diese These fest: An dem weltweiten Glauben an das Bruttoinlandsprodukt als einzig gültigen Fortschrittsindikator. An der Überzeugung, dass das menschliche Glück gleichbedeutend mit Konsum sei. Und an dem Glauben an die Leistungsgesellschaft.
Ausschluss der Jungen
All diese zuvor nahezu unumstößlichen Annahmen würden nun angesichts der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise erstmals seit Jahrzehnten ernsthaft in Frage gestellt. „Wir stellen fest, dass immerwährendes Wachstum nicht möglich ist und müssen anfangen, ernsthaft darüber nachzudenken, in welchem Zustand wir unseren Enkeln diese Welt hinterlassen wollen“, erklärte Bauman. Ebenso stark erschüttert worden sei die Idee der Meritokratie, also der Annahme, dass Leistung und Einsatz auch Erfolg mit sich bringen. Doch obwohl die 16- bis 25 Jährigen heutzutage besser ausgebildet seien als je eine Generation vor ihnen, erlebten diese jungen Leute Arbeitslosigkeit und ökonomische Exklusion in einem massiven Ausmaß.
„Alle Generationen, die nach dem 2. Weltkrieg auf die Welt kamen, wuchsen in dem Selbstverständnis auf, die gesellschaftliche und ökonomische Position ihrer Eltern halten, wenn nicht gar ausbauen zu können. Das ist nun erstmals anders. Junge Menschen leben mit der alltäglichen Angst, den von ihren Eltern geerbten Lebensstandard nicht halten zu können. Das bedeutet einen radikalen Wandel des Lebensgefühls junger Menschen und vor allem eine Gefährdung unseres intergenerationellen Zusammenlebens“, warnte Bauman.
Die Linke hat das Denken eingestellt
Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, an dem konservative und neoliberale Erzählungen und Weltbilder ins Wanken gerieten, habe die Sozialdemokratie jedoch wenig überzeugende Gegenvorschläge parat, so der Soziologe weiter. Stattdessen habe die europäische Linke in den vergangenen Jahren das Nachdenken über alternative Politik- und Wachstumsmodelle nahezu gänzlich eingestellt. Als eine der Ursachen dafür macht Bauman die Implosion der realsozialistischen Regime vor einem Vierteljahrhundert aus.
Bis zu diesem Zeitpunkt konnten sich Sozialdemokraten mit ihren Forderungen nach guter öffentlicher Gesundheitsvorsorge, hohen Sozialstandards und ausgeprägten Arbeitnehmerrechten relativ leicht durchsetzen, da die kapitalistisch ausgerichteten Staaten stets die Konkurrenz der realsozialistischen Regime fürchten mussten. Mit dem Ende des Realsozialismus und dessen Versprechen von gesellschaftlicher Gleichheit und umfassender staatlicher Fürsorge habe sich der Kapitalismus ungehemmt ausbreiten können und seine sozialen Ausprägungen mehr und mehr verloren.
Das individualisierte Prekariat
Darüber hinaus löse sich auch die proletarische Solidargemeinschaft auf, die den Sozialdemokraten über Jahrzehnte Kraft- und Energiequell gewesen sei. „Die Zahl der Arbeiter in Europa liegt längst unter 20 Prozent. Und die großen Betriebe, in denen sich Arbeiter früher alltäglich begegneten und ein solidarisches Klassenbewusstsein entwickeln konnten, existieren kaum mehr“, führte Bauman aus. In der wirtschaftlichen Krise stünden die wenigen übriggebliebenen Arbeiter vielmehr in ständiger Konkurrenz um die letzten verbleibenden Arbeitsplätze. Auf diese Weise habe sich das einst solidarische Proletariat längst in ein individualisiertes Prekariat gewandelt.
All diese Probleme, so Baumann abschließend, könne die Sozialdemokratie nicht schnell, quasi zwischen zwei Wahlen lösen. Der Entwurf eines neuen, eigenen Diskurses erfordere viel intellektuelle Anstrengung und ausführliche Debatten. Um diese Mühen durchzustehen, sollten sich die Sozialdemokraten an die Gründungsväter und –mütter ihrer Bewegung erinnern: „Sie waren in der absoluten Minderheit, am Rand des politischen Lebens. Sie hatten keinerlei Aussicht auf elektoralen Erfolg. Sie waren bereit, die herrschende Meinung langfristig und dauerhaft herauszufordern. Und sie setzten sich schließlich durch. Ich will damit nicht sagen, dass wir wieder von Null anfangen müssen, wie damals Lassalle. Wir müssen uns nur darauf einstellen, dass wir weitere 150 Jahre, dass wir wahrscheinlich immerwährende Anstrengungen vor uns haben. Und wir müssen uns dessen bewusst sein, dass jede Mehrheit einmal als Minderheit angefangen hat.“
Hier können Sie sich den Videomitschnitt der Rede ansehen.
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