Sie recherchierte in Archiven und suchte das Gespräch mit Zeitzeugen. Sie schrieb eine Doktorarbeit, die kürzlich mit dem Titel "Das 'weiße Haus' in Ost-Berlin, die ständige Vertretung der
Bundesrepublik bei der DDR" veröffentlicht wurde. Zur Buchvorstellung in der Reihe "das politische Buch" begrüßte Staatssekretär Thomas Freund (SPD) die Autorin und Schwerin-Korrespondentin des
Deutschlandfunks unlängst in der Berliner Landesvertretung von Mecklenburg-Vorpommern. Freund erinnerte daran, dass die Ostpolitik Willy Brandts und der 1972 geschlossene Gundlagenvertrag mit der
DDR die StäV erst möglich gemacht hätten. Es sei ein politischer Balanceakt gewesen, diplomatische Beziehungen zu etablieren, ohne dabei die Staatlichkeit der DDR und damit die dauerhafte Teilung
Deutschlands anzuerkennen. Boysen erklärte, die StäV habe in erster Linie Humanitäre Hilfe geleistet. Man habe Ausreisewillige beraten, Häftlinge in Gefängnissen betreut, sich um
Vormundschaftsfragen oder Fundsachen in Transitzügen gekümmert.
Von wegen Leisetreterei
Gast der Veranstaltung war auch Georg Girardet. Der promovierte Jurist arbeitete von 1978 bis 1985 in der StäV, in den letzten fünf Jahren als Kulturreferent. Ein DDR-Analphabet sei er
gewesen, als er nach Ostberlin zogen, sagte Girardet. Und er habe es als beschämend empfunden, so wenig über das Land zu wissen, während viele Menschen in der DDR so viel über den Westen gewusst
hätten. Seine Mutter habe eine Hilfsorganisation geleitet. Aus dem Keller seines Elternhauses seien über die Jahre 60.000 Pakete in den Osten verschickt worden. Die Hilfe, die man in der StäV
vor Ort habe leisten können, sei aber oft eher symbolisch gewesen.
Man habe keinen kulturpolitischen Auftrag gehabt, auch wenig Möglichkeiten, Publikum jenseits ausgesuchter SED-Kader zu erreichen. Deshalb sei der StäV oft "Leisetreterei" vorgeworfen
worden, vorweggenommener Gehorsam gegenüber den Erwartungen des Auswärtigen Amtes der DDR. Nur weil manchmal Kompromisse eingegangen worden seien, habe man aber in einigen Fällen auch helfen
können. Girardet berichtet etwa von einer Familie, die mit ihrem Lada die Sicherheitsschranke der StäV durchbrach und dabei einen Volkspolizisten überfuhr, um ihre Ausreise zu erzwingen. Die
Familie musste die StäV zwar wieder verlassen und sich wegen Körperverletzung einem Verfahren unterziehen. Danach sei sie auf Betreiben der StäV aber in den Westen entlassen worden.
Nicht nur Idealisten
Bis Januar 1981, so Boysen, sei noch Günter Gaus Chefunterhändler der BRD und Leiter der Behörde gewesen. Der habe den schwierigen Posten übernommen, obwohl er als Chefredakteur des
"Spiegel" zuvor "etwa das Fünffache" verdiente. Solcher Idealismus sei dann in den 80er Jahren abgeebbt. Mitarbeiter ließen diplomatisches Gespür vermissen, fuhren im Porsche vor und
missbrauchten ihren Diplomatenstatus, um zu schmuggeln. Es wurden auch Menschen über die Grenze gebracht - gegen Bezahlung, erinnert sich Girardet. "Zahlt euren Mitarbeitern weniger, dann kommen
die Richtigen wieder", habe er damals gefordert.
Es sei für die StäV-Mitarbeiter aber auch schwer gewesen, die Situation in der DDR richtig einzuschätzen. Beim Besuch von Industrieanlagen etwa, so Girardet, sei man getäuscht worden. Die
Maschinen seien vorher abgestellt und gereinigt worden. Aus einem Gespräch mit einer Augenärztin habe er dann erfahren, dass sie den ganzen Tag damit beschäftigt sei, Rußpartikel aus den Augen
von Arbeitern zu entfernen, Russpartikel die durch den ungefilterten Ausstoß der Fabrikschlote in die Luft geraten seien.
"Gutnachbarliche Beziehungen"
In den meisten Fällen gelangen solche Täuschungen. Die StäV habe wie die meisten Beobachter im Westen die Wirtschaftsleistung der DDR überschätzt und die Wende nicht vorhergesehen, so
Boysen. Girardet erklärt sich das mit einer emotionalen Voreingenommenheit. Häufig seien die inoffiziellen Botschafter von der Bevölkerung freundlich aufgenommen worden. Reisen mit dem
Dienstfahrzeug und Unterkunft im Interhotel seien möglich gewesen, das Amt sei komfortabel mit Tennisplätzen und anderem Luxus ausgestattet gewesen. Zum Einkauf sei man aber trotzdem in den
Westen gefahren. Seine Kinder seien zwar noch im Osten in den Kindergarten gegangen, hätten dann aber in West-Berlin die Schule besucht.
Boysens Buch weiß vom Alltag der Pendler zwischen Ost und West und vom politischen Spagat zwischen Kooperation und Konfrontation mit dem SED-Regime. Es erinnert an feststehende Ausdrücke
wie die Floskel von den "gutnachbarliche Beziehungen", die regelmäßig bemüht wurde oder erzählt Anekdoten. Etwa jene vom Schlüssel, den die Stasi all die Jahre über zu dem Gebäude gehabt, von dem
sie aber nie Gebrauch gemacht habe. Heute nutzt das Bundesministerium für Bildung und Forschung das Gebäude in der Hannoverschen Straße. Nur eine Plakette an der Hauswand erinnert an seine
frühere Funktion - und Jacqueline Boysens Buch.
Jacqueline Boysen: Das "weiße Haus" in Ost-Berlin. Die Ständige Vertretung der
Bundesrepublik bei der DDR. Ch. Links Verlag, Berlin 2010. 336 S. 29,90 Euro, ISBN: 978-3861535560