Udo Wengst nimmt sich etwa Wolfgang Koeppens "Das Treibhaus" vor. Der Roman aus dem Jahre 1953 parodiert die Adenauer-Zeit, macht aus Kurt Schumacher den SPD-Fraktionsvorsitzenden Knurrewahn, aus Präsident Heuss einen Schöngeist, der "zuviel Goethe gelesen" hat und sich darin genügt "seine gebildeten Ansprachen zu memorieren". "Vor acht Jahren", schreibt Koeppen in Anspielung auf die Nürnberger Prozesse, "saß man in Nürnberg, vor acht weiteren Jahren hatte man auch in Nürnberg gesessen, damals auf der Tribüne, die Nürnberger Gesetze wurden verkündet."
Wer aus dem Kaffeesatz liest
Was Koeppen da behauptet, eine Kontinuität von der Nazi-Zeit über eine halbherzige Entnazifizierung bis in die Bonner Nachkriegsrepublik, kritisiert der Historiker scharf. Koeppen habe mit einer "ausgeprägten Arroganz sowohl auf die Politik als auch auf das Volk" herabgeblickt. Die bundesrepublikanische Bevölkerung im Roman trauert der Nazi-Diktatur nach. Und tatsächlich versteht Koeppens Protagonist, der pazifistischen Bundestagsabgeordnete Keetenheuve, die Demokratie als hohle Posse: "Der Minister fährt nach Paris. Nun schön. Was tut er da? Er wird von einem anderen Minister empfangen. Na, wunderbar. … Hoffentlich war schönes Wetter."
Die Wiederbewaffnung der Republik erscheint ihm als Restauration. Wengst schimpft: Die Kritik sei "überzogen", die Wiederbewaffnung habe "stabilisierend" gewirkt und sei "friedenswahrend" gewesen. Solche Einwände sind Kaffeesatzleserei. Dass der Frieden in Europa dadurch gefährdet worden wäre, dass Deutschland auf militärische Aufrüstung verzichtet hätte, ist eine Spekulation, eine politische Meinung, aber keine historische Analyse.
Wer nörgeln darf
Was für Wengst gilt, gilt für eine Reihe von Beiträgen des Bandes: Die Historiker, die auf fremden Terrain - dem der Literaturwissenschaft - wildern, sind unsicher bei der Wahl ihrer Methoden, aber bestimmt in ihrem Urteil. So verkündet Jürgen Zarusky, Bernhard Schlinks "Der Vorleser" weise einen "Mangel an Präzision und (einen) Mangel an Empathie" auf. Das sind nun Vorwürfe, die einer literarischen Arbeit nicht gerecht werden können. Romane taugen nicht dazu, Verfolgungsopfer gebührend zu würdigen oder Gerechtigkeit herzustellen. Schriftsteller sind keine Gutmenschen. Die Literatur wäre sonst erbärmlich langweilig, wie sich das leicht am pädagogisch motivierten Flachsinn zeigt, den Mittelschüler zuweilen von überambitionierten Lehrern vorgesetzt bekommen.
Wengst verkennt die Zuspitzung als literarisches Mittel, verwechselt die literarische Figur mit dem Autor und müht sich schließlich mit dem Romantitel auch die Geschichte umzudeuten. Wenn Koeppen von Bonn als von einem Treibhaus sprach, dann dachte er an den nach Rosenwässerchen duftenden Konrad Adenauer und an die unwirkliche, gezüchtete und in sich abgeschlossene Atmosphäre. Wengst hingegen bemüht Wikipedia. Da steht, dass Gewächshaus ermögliche eine "kontrollierte Kultivierung von Pflanzen". In diesem Sinne, so Wengst, habe Bonn als Treibhaus der westdeutschen Demokratie gewirkt und er findet es "schwer nachvollziehbar, dass die Mehrzahl der deutschen Schriftsteller … dies nicht erkannt und noch Jahre und Jahrzehnte später den westdeutschen Staat und seine Staats- und Gesellschaftsform stets mir nörgelnder Kritik begleitet habe." Wir verstehen: Nörgeln, das dürfen Schriftsteller nicht. Das sollte den Historikern vorbehalten sein.
Wer Recht hat
Aber nicht alle sind angetreten, um Romane zu verreißen. Andreas Wirsching etwa geht auch methodisch ganz anders vor. Er trägt das Urteil der Zeitgenossen zusammen, sucht nach Bestätigung und Widerspruch. Und findet im Fall von Heinrich Manns "Der Untertan" beides.
Während der "Völkische Beobachter" die Satire auf den wilhelminischen Obrigkeitsstaat und das anbiedernde Duckmäusertum der gezähmten Bürger eine "freche Karikatur" und ein Rezensent der "Täglichen Rundschau" den Autor eine "Gartenkröte" nannte, kam Kurt Tucholsky zu einem ganz anderen Urteil: "Bescheidene Photographie. Es ist in Wahrheit schlimmer. Es ist viel schlimmer." Noch manche Historiker werden sich streiten, wer da mehr Recht hatte.
Johannes Hürter/ Jürgen Zarusky (Hrsg.): Epos Zeitgeschichte. Romane des 20. Jahrhunderts in zeithistorischer Sicht. Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Oldenbourg, München 2010, 197 Seiten, 17,80 Euro