Geschichte

Die SPD wird Volkspartei - das Godesberger Programm

von Die Redaktion · 12. Dezember 2005
placeholder

Es markierte vielmehr den - vorläufigen - Abschluss eines über 60 Jahre dauernden kontroversen Diskussions- und Lernprozesses.

Die Kontroverse über die geschichtsphilosophischen Grundlagen des marxistischen Erfurter Programms von 1891 begann bereits 1896 mit einer Aufsatzserie Bernsteins und vor allem mit seinem Buch "Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" (1899), das die Revisionismus- und Reformismusdebatte auslöste. Obwohl sich die SPD auf mehreren Parteitagen, vor allem 1903 in Dresden, zur revolutionär-marxistischen Theorie bekannte, setzte sich in ihrer Alltagspraxis der reformsozialistische Ansatz Bernsteins durch. Das unentschiedene Nebeneinander von zwei Konzepten und der Widerspruch zwischen revolutionärer Theorie und reformistischer Praxis wurden erst 1959 mit dem Godesberger Programm zu Gunsten des reformsozialistischen Ansatzes entschieden, als "Bernstein auf der ganzen Linie gesiegt hat". (Carlo Schmid)

Diese Entscheidung war nach intensiven kontroversen und klärenden Diskussionen möglich geworden:

- 1954 auf dem Berliner Parteitag mit der Entscheidung für eine Programmkommission, die sich im März 1955 unter Vorsitz von Willi Eichler konstituierte.

- Mai 1958 auf dem Stuttgarter Parteitag mit der Vorlage eines ersten Entwurfs, der in der SPD, u.a. im Vorwärts in der ständigen Rubrik "Freie Tribüne", kontrovers diskutiert wurde.

- 22. Juni 1959 mit der Vorlage eines zweiten, stark gekürzten und gestrafften Entwurfs, den der Parteitag (13. bis 15. November) mit zahlreichen Änderungen mit großer Mehrheit verabschiedete.

Welche Positionen der Tradition wurden im Godesberger Programm bestätigt, revidiert oder neu definiert?

Freiheit und Demokratie: Da das Bekenntnis der SPD zu Freiheit und Demokratie von Anfang an eindeutig war, musste es nur bekräftigt werden.

Weltanschauungs- und Klassenpartei: Mit der Feststellung, dass Sozialdemokraten "aus verschiedenen Glaubens- und Denkrichtungen kommen", wollte die SPD vor allem auch christliche Bevölkerungskreise ansprechen. Um über die Arbeiterschaft hinaus auch andere soziale Schichten zu gewinnen, definiert sich die SPD, wie schon Bernstein gefordert hatte, als Volkspartei: "Die SPD ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden."

Kapitalismuskritik und Sozialismus: Anders als manche Gegner einer Programmrevision befürchteten, hat die SPD keineswegs auf Kapitalismuskritik und die gesellschaftsverändernde Zielsetzung Sozialismus verzichtet. Aus einer scharfen Kritik ("wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht", "die führenden Männer der Großwirtschaft ... usurpieren Staatsgewalt") wird die gesellschaftsverändernde Zielsetzung abgeleitet: "In der von Gewinn- und Machtstreben bestimmten Wirtschaft und Gesellschaft sind Demokratie, soziale Sicherheit und freie Persönlichkeit gefährdet. Der demokratische Sozialismus erstrebt darum eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung."

Demokratischer Sozialismus wird neu definiert: Die neue Ordnung ist weder ein "Endziel" ("Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe") noch identisch mit dem traditionellen Konzept "Sozialismus ist gleich Sozialisierung plus Planwirtschaft". Im Konzept einer "gemischten Eigentumsordnung" können privates und staatliches, genossenschaftliches und kommunales Eigentum nebeneinander bestehen. Der Markt wird ausdrücklich als Instrument für Wirtschaftswachstum anerkannt. Nach der viel zitierten Formel "Wettbewerb soweit wie möglich - Planung soweit wie nötig" müssen aber Unzulänglichkeiten des Marktes durch eine aktive keynesianische Wirtschaftspolitik ausgeglichen werden.

Die Öffnung zur Volkspartei, das bessere Verhältnis zu den Kirchen, die überzeugende Sachkompetenz der führenden Sozialdemokraten für Außen- und Bildungspolitik, vor allem für Wirtschafts- und Sozialpolitik, führten der SPD neue Wähler zu. Zehn Jahre nach Verabschiedung des Godesberger Programms konnte die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt beginnen, "das moderne Deutschland zu schaffen".

Von Horst Heimann

Quelle: vorwärts 9/2004

0 Kommentare
Noch keine Kommentare