Geschichte

Die letzten Zeitzeugen berichten

Sie gehören zu den letzten Zeitzeugen, die von den Verbrechen der Nationalsozialisten erzählen können. Regina Lawrowitsch, Sinaida Lewanez, Frida Rejsman und Viktor Sosow aus Weißrussland und der Ukraine erinnern sich bis heute an die schrecklichen Erlebnisse ihrer Kindheit. Sie nehmen Teil an der Kampagne „Ich lebe noch“ der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ).
von Melanie Hudler · 20. April 2015
Überlebende von NS-Verbrechen
Überlebende von NS-Verbrechen

Die Kampagne will die Aufmerksamkeit für NS-Opfer in Osteuropa erhöhen und Spenden sammeln. Die Überlebenden haben sich bereit erklärt, ihr Gesicht für eine Plakatkampagne zur Verfügung zu stellen und mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Poster mit Porträts und Zitaten von insgesamt sechs Personen waren in ganz Berlin zu sehen. Auf einer Podiumsdiskussion am Donnerstag in Berlin erzählten vier der sechs von ihrem Schicksal und ihren heutigen Lebensbedingungen.

Regina Lawrowitsch

Die selbstbewusste Lawrowitsch wurde 1933 im weißrussischen Osowez geboren. Als sie zehn Jahre alt war, wurde sie im sogenannten Partisanengebiet von den Nazis gefangen genommen und nach Frankreich verschleppt, in ein Zwangsarbeiterlager bei Cherbourg. Dort mussten die Gefangenen Befestigungsanlagen für den „Atlantikwall“ bauen, der eine Invasion der Alliierten verhindern sollte.

Nach Kriegsende konnte sie im September 1945 in ihr Heimatdorf zurückkehren. „Meine Mutter sagte mir, dass ich niemandem erzählen sollte, dass ich Zwangsarbeiterin war“, berichtete die 82-Jährige. Erst kurz vor ihrem Ruhestand erzählte sie ihrem Mann und Kollegen davon. Heute leitet Regina Lawrowitsch den von der EVZ geförderten Verband der minderjährigen Zwangsarbeiter, „Dolja“ (Schicksal). „Viele ehemalige Häftlinge haben sich umgebracht“, erzählte Lawrowitsch in Berlin. „Diejenigen, die noch leben, sind trotz schlimmster Erfahrungen wohlwollende Menschen geblieben.“ Zahlreiche ehemalige Zwangsarbeiter hätten noch Kontakt zu den deutschen Familien, bei denen sie arbeiten mussten. Deshalb sei die deutsche Sprache immer noch sehr präsent bei den Überlebenden: „Wir befinden uns in einem ständigen Prozess der Erinnerung.“

Lawrowitsch thematisierte die Stellung der ehemaligen Zwangsarbeiter unter Stalin, der sie als Verräter behandelt hatte. „Diese Bezeichnung schwebt noch heute über uns.“ In Weißrussland hingegen hatten ehemalige NS-Häftlinge einen besonderen Status, der ihnen eine Rente und andere Erleichterungen brachte. Lawrowitsch zufolge wurde der jedoch 2007 abgeschafft, was ein Schlag für diejenigen war, die am meisten unter dem NS-Regime gelitten hatten. 

Frida Wulfowna Rejsman

Die energische rothaarige Frau wurde 1935 in Minsk geboren. Als Siebenjährige verschleppten deutsche Besatzer sie mit ihrer Familie in das Minsker Getto. Insgesamt wurden 60.000 Juden aus ganz Europa dorthin deportiert: „Wir litten Hunger und lebten in ständiger Angst vor gewalttätigen Razzien und Tötungskommandos“, so Rejsman. Die 80-Jährige hat sich später andere ehemalige Gettos in Europa angesehen, etwa in Warschau und Vilnius. „Das schlimmste war das in Minsk. Wir hatten nur kleine Holzhäuser ohne Heizung. Die Bedingungen waren sehr schrecklich.“ Nach zweieinhalb Jahre schafft es ihre Mutter, Frida mithilfe eines Bauern aus dem Getto zu schmuggeln. Das Kind wurde bis zum Kriegsende von verschiedenen weißrussischen Bauern versteckt. Heute lebt Frieda Rejsman in Minsk und ist Vorsitzende der Organisation „GILF“ („Hilf“), die sich für Getto-Überlebende einsetzt. Rejsman berichtete, dass Orte der Erinnerungen in Weißrussland oft nicht also solche gekennzeichnet werden. Die ehemalige Synagoge in Minsk beispielsweise werde als Theater genutzt. Außerdem sei das Leid der weißrussischen Juden unter dem kommunistischen Regime ein Tabuthema geblieben. Erst mit der Öffnung in den 1990ern und dem 50. Jahrestag der Befreiung des Minsker Gettos wurde laut Rejsman darüber gesprochen. Trotzdem findet sie, dass das Leid der Juden bis heute nicht genug Beachtung findet. Auch deshalb engagiert sie sich als Zeitzeugin: „Wir müssen der Welt über das Geschehene berichten, damit so etwas nie wieder passiert.“

Sinaida Petrowna Lewanez

Die eher zurückhaltende und ruhige Lewanez, geboren 1935 im weißrussischen Skirmontowo, war eine der fünf Überlebenden ihres Dorfes. Die deutschen Besatzer kamen im Juli 1943, trieben die anwesenden 243 Bewohner in eine Scheune und zündeten das ganze Dorf an. Die Menschen in der Scheune verbrannten bei lebendigem Leib.

„Damals als Kind konnte ich das Grauen, das ich gesehen hatte, nicht verarbeiten. Meine Psyche, mein Schlaf waren zerstört.“ Lewanez überlebte nur, weil sie zum Zeitpunkt des Überfalls ihren Schwestern, die sich im Wald versteckten, Essen brachte. Nach der Zerstörung des Dorfes lebte sie mit Partisanen im Wald und litt unter Hunger und Kälte. „Es gab den Wunsch zu leben, rauszukommen und den Hunger zu überwinden. Das half mir zu überleben“, so die 80-Jährige. Heute markiert ein Mahnmal den Ort, an dem früher Lewanez’ Dorf stand.

Lewanez spricht oft vor Schülern und Studenten über ihr Schicksal. Die Stigmatisierung der Überlebenden in der Sowjetunion hindere jedoch viele bis heute daran, von ihrem Schicksal zu erzählen. „Viele sind bereits gestorben und viele, die noch leben, sind nie damit an die Öffentlichkeit gegangen.“ Ihr ist es wichtig, den Austausch unter den Überlebenden zu fördern und mehr öffentliches Bewusstsein zu schaffen: „Wir möchten am gesellschaftlichen Leben teilhaben.“ 

Wiktor Sosow

Der rüstige Sosow wurde 1933 in Kiew geboren und erlebte als Kind die deutsche Besatzung. Er musste Razzien und Erschießungen mit ansehen und war Zeuge der Vernichtungsaktion von Babi Jar, einem der größten Massaker während des Zweiten Weltkriegs. Dabei erschossen deutsche Truppen Schätzungen zufolge zwischen 100.000 und 150.000 Menschen. Im Herbst 1943 verschleppten deutsche Soldaten Sosow und seine Mutter als Zwangsarbeiter, erst nach Polen und dann in das hessische Frielendorf.

Nach Kriegsende wurde er in der Sowjetunion als „Verräter“ angesehen und konnte deshalb nicht studieren. Heute lebt er in Kiew. Im Gegensatz zu den weißrussischen Überlegenden kann er Positives über die heutige Erinnerungskultur in seiner Heimat berichten. Es gebe in der Ukraine viele öffentliche Gedenkveranstaltungen, so Sosow. „Für mich sind diese Veranstaltungen eine wichtige Gelegenheit, um mich zu erinnern.“ Auch viele Schüler und Studenten würden teilnehmen, jedoch wünsche er sich noch mehr Möglichkeiten, von seinen Erlebnissen zu berichten.

Diesen Wunsch, den nachfolgenden Generationen von ihrem Schicksal zu erzählen, haben alle Überlebenden: Frida Rejsman, die energische rothaarige Dame, formulierte den gemeinsamen Wunsch so: „Wir möchten noch länger leben, damit wir den Jugendlichen von unseren Erlebnissen berichten können.“

Autor*in
Melanie Hudler

war Praktikantin beim vorwärts (2015).

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