Geschichte

„Die Impfpflicht hat in Deutschland eine gewisse Tradition.“

Seit in Deutschland geimpft wird, wird auch über die Impfpflicht gestritten. Aus Sicht des Medizinhistorikers Malte Thießen überwiegen bei einer allgemeinen Impfpflicht die Nachteile. Es gebe bessere Wege, die Impfquote zu erhöhen.
von Kai Doering · 26. Januar 2022
Vom Impfschein zum Impfzertifikat: Die Impfpflicht steht am Anfang des Impfens, sagt der Medizinhistoriker Malte Thießen.
Vom Impfschein zum Impfzertifikat: Die Impfpflicht steht am Anfang des Impfens, sagt der Medizinhistoriker Malte Thießen.

In der vergangenen Woche hat Österreich als erstes Land in der EU eine Corona-Impfpflicht beschlossen. Ist der Vorgang so historisch wie er klingt?

Europa hat mit der Impfpflicht eine jahrhundertelange Erfahrung. Die Österreicher waren da im Vergleich immer etwas zurückhaltender. Insofern ist es sicher etwas Besonderes, dass sie nun die ersten sind, die eine Corona-Impfpflicht einführen.

Seit wann gibt es Impfungen überhaupt?

Die lassen sich bereits bis in die Antike zurückverfolgen. Doch das, was wir heute als Impfen verstehen, beginnt Ende des 18. Jahrhunderts mit der Pockenimpfung. Die wird von Edward Jenner, einem britischen Landarzt, entwickelt, indem er Erreger von Kuhpocken abtötet und Menschen einschneidet. Damit wurde erstmals ein Impfstoff hergestellt und es ist das erste Mal, dass Politik Gesundheit effektiv planen kann. Das hat damals eine ungeheure Euphorie ausgelöst.

Wurde damals auch schon über eine Impfpflicht nachgedacht?

Die Impfpflicht steht sogar am Anfang des Impfens. Die Pocken waren die Geißel des 18. und 19. Jahrhunderts. Viele empfanden die Impfung daher als einen Segen, aber eben nicht alle. In Deutschland war Bayern das erste Land, das die Impfpflicht gegen die Pocken einführte. Das war 1807. Die erste nationale Impfpflicht gab es 1874.

Wie ging es danach weiter?

So richtig erst in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Diphterie-Schutzimpfung. Das war die zweite große Impfung in Deutschland nach den Pocken. Sie wurde vor allem Kindern verabreicht. In den 50er Jahren kam dann die Polio-Impfung dazu und ab den 70ern kamen dann die Mehrfach-Impfstoffe etwa gegen Masern, Röteln und Mumps auf. Ich nenne diese Zeit das „Zeitalter der Immunität“.

Was macht die geplante Impfpflicht gegen das Corona-Virus dann so besonders, dass sie regelmäßig Tausende auf die Straße treibt und im Bundestag zur Gewissensfrage erklärt wird?

Viele haben vergessen, dass die Impfpflicht in Deutschland eine gewisse Tradition hat. Das liegt auch daran, dass die Bundesrepublik und die DDR unterschiedliche Wege gegangen sind. Während es in der DDR eine Impfpflicht gab, die allerdings recht pragmatisch gehandhabt wurde, hat man in der Bundesrepublik vor allem auf Freiwilligkeit gesetzt. Selbst bei der an sich noch verpflichtenden Pockenimpfung gab es viele Ausnahmeregelungen. Die Impfpflicht, die jetzt im Zusammenhang mit dem Corona-Virus diskutiert wird, ist also durchaus etwas Neues. Sie bricht mit dem bisher sehr erfolgreich praktizierten Modell der Freiwilligkeit. Deshalb schlagen die Wellen jetzt auch so hoch.

Ist eine Impfpflicht gegen das Corona-Virus aus historischer Perspektive denn überhaupt sinnvoll?

Das ist ein sehr heikles Thema. Im Gegensatz zu anderen Impfungen gibt es doch recht viele Impfdurchbrüche und auch das Intervall zwischen den notwendigen Impfungen ist vergleichsweise kurz. Das sind Erfahrungen, die wir früher auch bei anderen Krankheiten gemacht, inzwischen aber vergessen haben, weil es heute eine hohe Herdenimmunität gegen sie gibt. Das hat dazu geführt, dass wir Immunität als ein absolutes Sicherheitsgefühl verinnerlicht haben: Man wird geimpft und ist dann vor der Krankheit geschützt. Das ist bei der Corona-Impfung anders, weil wir es zum einen mit neu entwickelten Impfstoffen zu tun haben und zum anderen mit einer Krankheit, die sich noch ständig verändert. In der politischen Kommunikation der Impfung ist dem zu wenig Rechnung getragen worden.

Inwiefern?

Die gesamte politische Kommunikation war vom Anfang der Pandemie an darauf ausgerichtet, zu sagen, die Pandemie sei vorbei, wenn der Impfstoff da ist. Die Medien haben diese Erzählung begeistert aufgegriffen. Aus der bisherigen Erfahrung mit Impfungen ist das nachvollziehbar, stellt sich aber mehr und mehr als ein Trugschluss heraus. Ein absolutes Sicherheitsversprechen gibt es nämlich nicht. Das fällt uns jetzt auf die Füße, weil die Relativität der Impfung die Impfakzeptanz senkt.

Die Impfung bringt also gar nichts?

Doch, auf jeden Fall! Impfungen sind die beste Waffe, die wir gegen Corona haben. Aber natürlich ist der Schutz relativ – relativ hoch, aber eben nicht hundertprozentig. Und genau das hätte man von Anfang an auch so sagen müssen. Wegen der Relativität von Immunität sind wir auf eine hohe Herdenimmunität angewiesen, also darauf, dass sich möglichst viele impfen lassen.

Und trotzdem sagen Sie, die Impfpflicht ist aus der historischen Erfahrung heraus keine gute Idee.

Die Impfpflicht hat sicher Vor- und Nachteile. Mein Eindruck ist aber, dass die Nachteile überwiegen. Der große Vorteil ist, dass eine Impfpflicht immer doppeldeutig ist: Sie bedeutet für den Staatsbürger eine Pflicht, sich impfen zu lassen. Den Staat aber verpflichtet sie, die nötige Infrastruktur und natürlich den Impfstoff zur Verfügung zu stellen. Das ist die große Stärke der Impfpflicht im 19. Jahrhundert – dass sie das Gesundheitswesen erstmals in die Fläche bringt. Hinzu kommt, dass eine staatliche Aufforderung eine andere Verbindlichkeit hat als das bloße Impfangebot. Ein dritter Vorteil der Impfpflicht ist, dass sie moderaten Impfgegnern eine goldene Brücke baut und sie ihrer Peergroup gegenüber ein starkes Argument haben, sich doch impfen zu lassen. Und ich sehe noch einen vierten Vorteil der Impfpflicht: Sie klärt nämlich die Verantwortlichkeit für mögliche Impfschäden, denn wenn der Staat etwas anordnet, muss er auch für die Folgen geradestehen. Das entlastet aus meiner Sicht vor allem Eltern, die damit hadern, ob sie ihr Kinder gegen das Corona-Virus impfen lassen sollen oder nicht.

Das klingt nach einer Menge Vorteilen…

Natürlich gibt es die, aber die negativen Nebenwirkungen einer Impfpflicht wiegen aus meiner Sicht schwerer. Ein erster großer Nachteil ist, dass durch die Impfpflicht die Impfgegner mobilisiert werden, weil sie sich in ihren Vorurteilen bestätigt sehen. Das ist ja zurzeit auch gut bei den sogenannten Spaziergängen zu beobachten. Dabei spielt weniger die Angst vor der Impfung eine Rolle, sondern eher das Schreckensbild des totalen Gesundheitsstaates. Darüber hinaus mobilisiert eine Impfpflicht auch diejenigen, die bisher noch zögerlich sind. Ihnen schlägt man mit der Impfpflicht in gewisser Weise die Tür vor der Nase zu. Ein dritter Nachteil ist, dass die Impfpflicht eine ungeheure Ressourcenverschwendung ist. Sie muss ja nicht nur beschlossen, sondern auch umgesetzt und kontrolliert werden. Die Geschichte zeigt, dass das sehr aufwändig ist. Aus meiner Sicht wären die notwendigen Ressourcen besser in Aufklärung u.ä. investiert.

Wie ist die historische Erfahrung mit Sanktionen?

Die Erfahrung zeigt zudem, dass Sanktionen ein stumpfes Schwert sind und die Impfquote nur bedingt erhöhen. Ich habe auch Sorge, dass nach Einführung der Impfpflicht das Fälschungswesen für Impfnachweise florieren wird. Auch das zeigt der Blick zurück und das ist eine große Gefahr, weil dadurch versteckte Infektionsherde entstehen können. Hinzu kommt, dass die Impfpflicht eine Kultur des Misstrauens schafft, weil sie unterstellt, dass man Menschen zu ihrem Glück zwingen muss. Wenn Menschen etwas aus eigener Überzeugung machen, ist es viel effektiver und nachhaltiger. Letztlich könnte die Impfpflicht und der damit verbundene Bruch mit der Selbstbestimmung sogar die Akzeptanz anderer Gesundheitsprogramme gefährden.

Was wäre also die bessere Alternative?

Die Geschichte zeigt, dass Aufklärung und gute Angebote die Impfquote am besten steigern. Bei der Diphterie-Schutzimpfung z.B. wurde auf massive Werbung gesetzt, auf Beratungsgespräche und auf niedrigschwellige Angebote mit dem Ergebnis, dass die Impfquote immer über 90 Prozent lag. Im Vergleich dazu lag die Impfquote bei der verpflichtenden Pockenimpfung nur bei 60 bis 70 Prozent. Freiwilligkeit, massive Werbung und eine bessere Aufklärung könnten daher naus meiner Sicht der beste Weg zu einer höheren Corona-Impfquote sein. Das alles ist mühselig, aber in Anbetracht der gesellschaftlichen Nebenwirkungen, die eine Impfpflicht mit sich bringen kann, ist es die Mühe wert. Und dass man über Freiwilligkeit eine hohe Impfquote erreichen kann, hat ja z.B. Bremen gezeigt.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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