Velika Kladusa, die Stadt im äußersten Nordwesten von Bosnien-Herzegowina, ist schon von kroatischem Territorium aus sichtbar. Zumindest das Wahrzeichen des Ortes, die alte Burg, ragt markant aus der hügeligen, grünen Landschaft hervor.
Die Bewohner
Das Stadtgebiet von Velika Kladusa beginnt nur wenige Kilometer vom Grenzübergang entfernt. Die meisten der 46.000 Einwohner sind heute Bosniaken, also Muslime. Viele Häuser erstrahlen in bunten Pastellfarben, in den Vorgärten stehen Obstbäume auf grünen Wiesen. Im Zentrum rund um die Moschee prägen gut besuchte Straßencafés, Restaurants und Bars das Bild.
In einem Bistro wird türkischer Kaffe serviert. Etwas weiter weg sitzen zwei Männer auf einer Bank und sprechen über Politik, dabei tippen sie mit den Fingern auf die Schlagzeilen einer Zeitung. "Wenn ich könnte, dann würde ich gehen", bemerkt ein junger Kellner mit flachsblonden Haaren. Wären die Grenzen für Bosniaken offen, würden etwa 80 Prozent seiner Altersgenossen das Land verlassen, schätzt er und schaut sich dabei missmutig um.
"Bisher kenne ich von der Welt nur Bosnien und Kroatien", sagt er als er die Bestellung aufgibt, wobei er das Wort Kroatien ausspuckt wie ein altes Kaugummi. An den Krieg habe er kaum noch Erinnerungen, stattdessen gehörten der alltägliche Überlebenskampf und die mangelnden beruflichen Perspektiven seiner Generation zum Alltag. Die trügerische politische Stabilität, die ungeklärte Zukunft der Bosnisch-Kroatischen Förderation, von spöttischen Zungen auch als "Absurdistan" bezeichnet, lassen die Blicke der Bewohner sehnsuchtsvoll über die Grenze oder zurück in die Vergangenheit schweifen. In die Zeit als es noch Jugoslawien gab.
Die Vergangenheit
Trotz der hohen Arbeitslosigkeit wirkt Velika Kladusa immer noch gepflegter als viele andere Städte in dieser Region Bosniens. Das mag daran liegen, dass die Stadt während des Krieges von Zerstörungen weitestgehend verschont blieb. Aber auch an der jüngeren Vergangenheit, in der Velika Kladusa Sitz des Konzerns Agrocomerc war und damit als eine Region der damaligen Teilrepublik Jugoslawiens galt, die besonders prosperierte.
"Ach Agrocomerc", schwärmt eine ältere Dame, die in der Innenstadt ihre Einkäufe erledigt: "Damals war das Unternehmen die Stadt, die Stadt war das Unternehmen. Ganz Jugoslawien schaute voller Neid auf diese Stadt. Wir hatten alle Arbeit. Fikret Abdic war unser Gott". Fikret Abdic also.
Dieser ehemalige Generaldirektor von Agrocomerc, von den meisten Bewohnern immer noch als "Babo" - als "Papa" - bezeichnet, wurde 2001 in Kroatien als Kriegsverbrecher verurteilt und sitzt seitdem in Haft. "Fikret Abdic ist unschuldig und schon gar kein Kriegsverbrecher", sagt dazu Sead Puric.
Ein Radiosender als Sprachrohr Westbosniens
Puric ist der Direktor von Radio Kladusa und einer der engen Weggefährten von Fikret Abdic. Während des Gespräches springt Puric im Sendestudio regelmäßig auf, lässt seine Zigaretten im Aschenbecher verglühen und eilt umher, um ein neues Musikstück anzumoderieren oder die Nachrichten zu verlesen. Zusammen mit drei jungen Mitarbeitern betreibt er den Sender, der sich in einem unscheinbaren Gebäude am Rande der Innenstadt befindet.
Musik sei sein Leben, betont der Mittsechziger selbstbewusst. Dabei erwähnt er nicht seinen eigenen Ruf als begnadeter Musiker und Akkordeonspieler. Der Mann im blauen Jeanshemd mit den weißen Haaren strahlt Energie aus. Während des Krieges sendete Radio Kladusa ununterbrochen von wechselnden Standorten aus, verfolgt und beschossen von den muslimischen Truppen des bosnischen Präsidenten Alia Itzebegovic. Puric zeigt Fotos aus jener Zeit. Der Übertragungswagen ist in den Bergen zu sehen, auf anderen Bildern in dem Garten irgendeines Gebäudes, getarnt durch Zweige und Laub.
"Wir haben damals objektiv berichtet, ohne für eine Volksgruppe Partei zu ergreifen oder den völkischen Wahnsinn zu unterstützen. Darum gerieten wir in die Schusslinie", führt der gelernte Journalist fort. Damals, das war die Zeit zwischen 1993 und 1995. Radio Kladusa war in den Kriegsjahren so etwas wie das Sprachrohr der selbsternannten Republik von Westbosnien.
Die Sonderrolle von Velika Kladusa
VelikaKladusa war die Hauptstadt dieser unabhängigen Republik, ein Staat, der international nie anerkannt wurde und dessen Existenz nur zwei Jahre andauern sollte. Als der Krieg 1992 nach Bosnien kam, schien es so, als wäre im Nordwesten Bosniens rund um Velika Kladusa eine friedliche Einigung von Serben und Muslimen möglich. Anders als der Rest der muslimischen Gemeinschaft in Bosnien, hatte die bosnisch-muslimische Gesellschaft in der Stadt eine ganz eigene Orientierung. Ihr Anführer Ficret Abdic vereinbarte mit den Serben einen Separatfrieden und strebte einen Ausgleich mit den Kroaten an. Die autonome Region Westbosnien wurde im Sommer 1993 gegründet.
Das Gebiet, das sich auf Velika Kladusa und die angrenzenden Gemeinden beschränkte, lag geografisch eingekesselt inmitten des serbischen Herrschaftsgebiets. "Wir wurden schließlich von unseren Glaubensbrüdern, den muslimischen Truppen des bosnischen Präsidenten Itzebogovic angegriffen", erinnert sich Puric.
"Der Westen hatte einseitig für Itzebegovic Partei ergriffen und gewährte uns keine Unterstützung. In Sarajevo warf man uns Verrat sowie Kooperation mit dem Feind vor. Uns gelang es aber, diese Propaganda zu bekämpfen. Radio Kladusa hat während des Krieges ununterbrochen gesendet. Noch heute haben wir in der ganzen Welt Zuhörer."
"Jugoslawien im Kleinformat"
Im Jahr 1990, also noch vor dem Ausbruch des Krieges, wäre Ficret Abdic beinahe Präsident von Bosnien geworden. Warum er auf das Amt verzichtete und seinem innerparteilichen Konkurrenten Alia Itzebegovic den Vortritt ließ, darum ranken sich noch heute Gerüchte. Angeblich wurde er bedroht. Als Vorsitzender des Konzerns Agrocomerc war er in Bosnien angesehen und in ganz Jugoslawien bekannt.
Das halbstaatliche Unternehmen, das gemäß der Prinzipien von Tito als eine Arbeiterselbstverwaltung geführt wurde, lieferte Lebensmittel nach ganz Jugoslawien und ins Ausland. Der Konzern verfügte sogar über einen eigenen Fuhrpark, einen Flugplatz, Ferienheime und Immobilien. "Agrocomerc war Jugoslawien im Kleinformat", sagt Sead Puric nachdenklich, während er Gebäck reicht.
"Sowohl Agrocomerc als auch meine Heimat Jugoslawien wurden zerschlagen" fügt er leise hinzu. Aus seiner Nostalgie gegenüber dem untergegangenem Vielvölkerstaat macht er keinen Hehl: "Der Krieg hat den Dreck nach oben gespült. Die Menschen haben sich verändert."
Vor dem Krieg betrieb Puric neben seinem Wohnhaus eine kleine Gaststätte. Eines Tages - in Bosnien waren gerade die Kämpfe ausgebrochen - erhielt er einen Anruf von seinem Nachbarn, mit dem er sich immer gut verstanden hatte. "Siehst du wie es da hinten brennt?", rief dieser in die Leitung. "Das ist deine Gaststätte. Die habe ich gerade angezündet."
Krieg nach der kurzen Unabhängigkeit
Kurz nachdem Fikret Abdic im Sommer 1995 die autonome Region zu einer Republik erklärt hatte, begann der gemeinsame Angriff der bosnischen und kroatischen Truppen auf das Territorium. 30.000 Soldaten Abdics gerieten in Gefangenschaft, er selbst floh nach Kroatien, wo ihm der damalige Präsident Franjo Tudman Asyl gewährte. Nach Tudmans Tod wurde Abdic 2001 verhaftet und in Kroatien als Kriegsverbrecher angeklagt. Aufgrund seiner angeblichen Beteiligung am Tod von 400 Zivilisten und der Errichtung von Lagern wurde er im Juli 2002 von einem Gericht zu 15 Jahren Haft verurteilt.
"Alles Propaganda", kommentiert Puric die Behauptung, unter Abdics Herrschaft wäre es zu Kriegsverbrechen an politischen Gegnern gekommen. Auch er entkam damals über die Grenze, kehrte aber vor einigen Jahren wieder zurück. Seine Frau und die Töchter leben immer noch in der kroatischen Hauptstadt Zagreb. Er ist heute neben seiner Tätigkeit beim Radiosender der Pressesprecher des Bürgermeisters von Velika Kladusa.
Es ist spät geworden, Sead Puric greift nach seinem Jackett, verabschiedet sich und verlässt den Sender. Draußen regnet es. Zwei Mädchen kommen aus einem Laden. In Ihren Händen halten sie zwei Zeitungen, auf deren Titelseiten das Porträt von Ratko Mladic zu sehen ist, also des Kriegsverbrechers, der vor 16 Jahren in Srebrenica, einige hundert Kilometer östlich von hier, ein Blutbad unter der muslimischen Bevölkerung anrichten ließ.
"Ach der Krieg, das alles liegt doch schon so lange zurück! Wir hoffen auf die EU, damit wir wieder zu Europa gehören", rufen die beiden Mädchen, die sich mit den Zeitungen vor dem Regen zu schützen versuchen. Hand in Hand laufen sie über die vom Wasser glänzende Straße.