Geschichte

In die Freiheit gegraben

von Birgit Güll · 26. September 2008
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Mehr als 28 Jahre lang teilte die Berliner Mauer den Ost- vom Westteil der Stadt. Die militärisch gesicherte Grenzanlage zu überwinden, war ein lebensgefährliches Unterfangen. "Doch beiderseits des Todesstreifens gab es Menschen, die sich mit der Sperrung nicht abfinden wollten", heißt es im Buch. Zu den abenteuerlichsten Plänen gehören wohl die Tunnelfluchten, die Arnold und Kellerhoff in ihrem Buch beschreiben.

Mit dem Abwasser "rüber"

Als die Mauer im August 1961 überraschend und in Windeseile hochgezogen wurde, bot zunächst die Kanalisation eine Fluchtmöglichkeit. So gelangten beispielsweise im Herbst des Jahres etwa 180 DDR-Bürger über einen Mischwasserkanal von Mitte nach Kreuzberg. Organisiert wurden dies vom "Reisebüro", einer Studentengruppe der Freien Universität Berlin. In Anspielung auf den Geruch der Durchgekrochenen wurde der Fluchtweg als "Glockengasse 4711" bekannt.

Doch die DDR reagierte umgehend auf Aktionen wie diese. Sie baute ihre bereits in den 50ern begonnenen Gittersperren in der Berliner Kanalisation zu massiven, unüberwindbaren Hindernissen aus. Damit "schlug die Stunde der Fluchttunnel von Berlin", erläutern die beiden Buchautoren. Einfacher war es, vom Westen in den Osten der Stadt zu graben - und doch gab es auch einige Grabungen in die andere Richtung.

Vom Friedhofstunnel...

Basierend auf Zeitzeugenberichten, Stasi-Akten und Zeitungsartikeln erstellten die Autoren eine umfassende Dokumentation der Fluchttunnel. Zu lesen ist von kühnen Aktionen. Etwa der "Pankower Friedhofstunnel", durch den eine ganze Reihe von "Trauernden" in den Westen verschwand. Oder vom Rentnertunnel - einem von Senioren gegrabenen Weg in die Freiheit.

Der Mauerverlauf eröffnete an der Heidelberger Straße eine besondere Fluchtmöglichkeit: Nur knapp 18 Meter trennten hier die intakten Mietshäuser der Neuköllner Südseite und jene der Treptower Nordseite - und damit West und Ost. Die berühmte Bernauer Straße war etwa doppelt so breit. Für eine Umsiedelung aus dem Grenzgebiet, wie an der Bernauer oder der Harzer Straße, war aufgrund von fehlendem Ersatzwohnraum nicht zu denken. Ein- und ausgehende Menschen fielen also nicht auf.

... und dem idealen Untergrund

Hinzu kam ein nahezu idealer Untergrund zum Graben: Eine feste Torfschicht sorgte für Stabilität. Aus all diesen Gründen entwickelte sich das Areal "zum regelrechten Untertagebau: Nirgends in Berlin wurden mehr Fluchttunnel begonnen, nirgends gelang häufiger der Durchbruch, nirgends flohen mehr Menschen durch unterirdische Stollen als gerade hier", erläutert das Buch. Erst mittels eines breiten, teuren Sperrgrabens konnte das DDR-Regime die gewaltige Tunnelaktivität an der Heidelberger Straße unterbinden.

"Die Fluchttunnel von Berlin" kann nicht nur Erfolgsgeschichten verzeichnen: "Mehr als 250 DDR-Bürger krochen unter der Erde 'nach drüben', aber weitaus mehr bezahlten ihre Hoffnung auf die Flucht mit teilweise langjährigen Haftstrafen", heißt es im Buch. Denn das DDR-Regime trieb einen enormen Aufwand, um den Stollengräbern das Handwerk zu legen: Von einer Tunnelkartei über Abhörsonden bis hin zum Graben von Gegentunneln ließ die Stasi nichts unversucht. Sie führte eine bewaffnete Hetzjagd gegen die Tunnelgräber.

Erinnerung am Leben erhalten

Die beiden Autoren legen ein beeindruckendes Buch vor. "Die Fluchttunnel von Berlin" zeichnet ein deutliches Bild der Situation. Karten und Fotos ergänzen und bereichern es. Die gesammelten Berichte der Tunnelgräber zeugen vom Mut der Verzweiflung, der DDR-Bürger zu diesen lebensgefährlichen und kraftraubenden Fluchtversuchen trieb.

Umso mehr beklagen Arnold und Kellerhoff die Tatsache, dass bisher nirgendwo in Berlin Spuren dieser Tunnel gesichert wurden, um die Erinnerung am Leben zu erhalten. Als einen Tribut an die aktuelle Rechtslage empfinden die Autoren die im Buch vorgenommene Anonymisierung der Täternamen.

Birgit Güll

Dietmar Arnold/ Sven Felix Kellerhoff: "Die Fluchttunnel von Berlin", Propyläen Verlag 2008, 288 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-549-07341-4

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Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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