Geschichte

Die doppelten Deutschen

„Wendekinder“ haben viele gemeinsame Erfahrungen. Besonders prägend ist die zweifache Sozialisation - durch die DDR und durch die Bundesrepublik. Adriana Lettrari möchte mit dem Netzwerk „3te Generation Ostdeutschland“ diese doppelte Identität ergründen.
von Kai Doering · 23. April 2014

An einem Abend im April 2009 saß Adriana Lettrari vor dem Fernseher und war wütend. Es lief eine Talkshow, in der „ältere Herren aus Westdeutschland“ über den Fall der Mauer und den Zustand Ostdeutschlands 20 Jahre danach diskutierten. „Warum sprechen die anderen über meine Heimat und was bedeutet sie für mich?“, fragte sich die 1979 in Neustrelitz geborene Lettrari – und diskutierte in den folgenden Monaten mit Freunden darüber. Bald war klar: Lettrari und die anderen zwischen 1975 und 1985 geborenen „Wendekinder“ teilten viele gemeinsame Erfahrungen rund um den Fall der Mauer. „Wir haben eine doppelte Sozialisation – eine in der DDR, eine in der Bundesrepublik.“

Erfahrungen von Wendekindern nutzen

Um diese doppelte Identität zu ergründen, rief Lettrari ein Netzwerk ins Leben, die „3te Generation Ostdeutschland“. „Wir sind kein neuer Ossi-Club“, wiegelt die 34-Jährige ab. Es gehe vielmehr darum, die Erfahrungen der „Wendekinder“ – Lettrari spricht von einer „Transformationskompetenz“ – für zukünftige Herausforderungen nutzbar zu machen. „Wir haben erlebt, dass ein politisches System abgelöst werden kann. Unsere Bereitschaft ist größer, uns auf Veränderungen einzulassen.“

Seit ihrer Gründung 2010 hat die „3te Generation“ eine Bustour durch Ostdeutschland organisiert, eine Studie zum Fachkräftemangel in den neuen Ländern initiiert, drei „Generationstreffen“ abgehalten und ein Buch mit Wendeerfahrungen aus Ost und West herausgegeben. Für sein bürgerschaftliches Engagement hat die SPD das Netzwerk im vergangenen Jahr mit dem Gustav-Heinemann-Bürgerpreis ausgezeichnet. Im Februar wurde ein Büro „Unter den Linden“ in Berlin eröffnet.

Europäische Perspektive sehen

„Wir sind jetzt in einer Übergangsphase“, sagt René Sadowski, auch er ein Wendekind, 1975 in Ost-Berlin geboren. Vier Jahre nach der Gründung des Netzwerks laute die Devise: „Raus aus der Ostecke, hin zum Gesamtbild einer gesamtdeutschen dritten Generation.“ So sollen beim nächsten Generationstreffen im Herbst erstmals auch Westdeutsche und Menschen mit Migrationserfahrung teilnehmen. Und es soll eine stärkere europäische Perspektive hinzukommen. „Wir werden wohl bald einen neuen Namen brauchen“, sagt Adriana Lettrari.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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