Geschichte

Die doppelte Verteidigung der Demokratie

von Martin Albers · 29. Mai 2013

Die Rede ein beeindruckendes  Dokument von Zivilcourage im wörtlichen Sinne,  und  die  scheinbare  Zurückhaltung  lässt  sich  verstehen,  wenn man  den  Text  vor  dem historischen Hintergrund sieht

Erstens muss man die unmittelbaren Umstände der Rede sehen. Die Wahlen im März waren bereits von nationalsozialistischem Terror geprägt. Die kommunistischen Abgeordneten wurden komplett daran gehindert, ihre Mandate wahrzunehmen. Auch von den 120 SPD-Abgeordneten waren einige bereits verhaftet worden, Julius Leber und Carl Severing sogar auf dem Weg zur Reichstagssitzung. Derehemalige Minister Wilhelm Sollmann lag nach  schweren Misshandlungen im Krankenhaus, und von 120 gewählten SPD-Mitgliedern konnten nur 94 Abgeordnete an der Sitzung teilnehmen. Bereits auf dem Weg von den Fraktionsräumen zur Kroll-Oper, wo die Sitzung stattfand, mussten die Sozialdemokraten einen Spießrutenlauf durchein Spalier von SA-Männern bewältigen.

Auch der Sitzungssaal selbst war gefüllt mit SA-Mitgliedern, die teilweise bewaffnet waren. Nicht nur Wels fürchtete um sein Leben und trug angeblich eine Cyanid-Kapsel bei sich, um sich im Falle von Verhaftung und Folter das Leben zu  nehmen. In dieser Situation wollte man den Nazis keinen Anlass bieten, Wels niederzubrüllen oder ihn und die  SPD-Abgeordneten unmittelbar nach der Sitzung anzugreifen. Zudem war bereits im Vorfeld des Wahlkampfes im März die gesamte linke Presse in ihrem Wirken stark eingeschränkt worden. Um dennoch einen Abdruck in den  nicht- nationalsozialistischen Zeitungen zu ermöglichen, übten die Verfasser der Rede – neben Wels u.a. auch Kurt Schumacher – große Zurückhaltung. 

Nachwirkungen bis heute

Darüber  hinaus  verfolgte  Wels  das  klare  Ziel,  die  Konzepte  Nation  und  Patriotismus  nicht gegenüber den Nazis preiszugeben. Darin ist kein Werben um Unterstützung durch Nationalisten zu sehen, sondern ein Ausdruck des  komplexen und oft schwierigen Verhältnisses von Nation und Sozialdemokratie.  Als  Chiffren  stehen  hier   insbesondere  die  Zustimmung  der  SPD  zu  den Kriegskrediten 1914 und die Gründungsphase der Weimarer Republik 1918/19 im Raum. 1914 hatte die  SPD  entgegen  früheren  Bekenntnissen  zum  Internationalismus  die  Regierung  unter  Kaiser Wilhelm II. unterstützt. Die Politik des Burgfriedens hatte Kriegseintritt und -führung  ungemein erleichtert. Das Ziel, dadurch die Ausgrenzung der Arbeiterschaft zu überwinden und politische Gestaltungsmöglichkeiten zu gewinnen, erfüllte sich jedoch kaum.

Stattdessen zerbrach die Partei in USPD und  MSPD, und das Bewusstsein, mit der Unterstützung der Kriegskredite historische Schuld auf sich geladen zu haben, belastete die Partei für Jahrzehnte. In mancher Hinsicht hat die damalige Entscheidung bis heute Nachwirkungen. 1933 schien eine ähnliche nationale Krisensituation eingetreten zu sein. Angesichts  der  Wirtschaftskrise  und  des  Scheiterns  der Weimarer Republik beschworen nicht nur die  Nazis die Notwendigkeit einer breiten nationalen Einigung, um die anstehenden Probleme zu überwinden.Dieser  Eindruck der nationalen Krise erklärt  zum  Teil,  warum  Zentrum  und  Liberale  dem Ermächtigungsgesetz zustimmten. Die Schwierigkeit für Wels und die SPD bestand also darin, einerseits den Grundsätzen der Partei treu zu bleiben und, im Gegensatz zu 1914, die moralisch und politisch richtige Entscheidung zu treffen, gleichzeitig aber  den Eindruck zu vermeiden,die Sozialdemokratie verweigere sich der Idee des nationalen Zusammenhalts in der  außergewöhnlichen Krisensituation Anfang der 1930er Jahre. Daher das Bekenntnis zur der Forderung nach internationaler Gleichberechtigung für Deutschland, Ende der Reparationen und die  Erklärung, die SPD habe weder in Paris um Intervention gebeten, noch ihr Vermögen nach Prag transferiert.

Der Bruch zwischen SPD und KPD

Das zweite Schlüsselmoment im Verhältnis von Sozialdemokratie und Nation, das eine wichtige Rolle  spielt,  ist  die  Gründungszeit  der  Weimarer  Republik  von  1918/19.  Nach  dem  völligen Scheitern der Strategie der militärischen Eliten hatten diese es insbesondere derSPD überlassen, die politischen Scherben von vier Jahren Krieg  zusammenzukehren. Die Regierung unter Friedrich Ebert sah sich dabei mit einer Reihe existentieller Probleme konfrontiert. Im Innern drohte bis zu Beginn der 1920er Jahre sowohl eine Radikalisierung der Revolution, als  auch  ein Putsch von Rechts und ein offener Bürgerkrieg, wie er in Russland zu Millionen von Toten geführt  hatte. International drangen die Alliierten auf Annahme der tatsächlich sehr harten Friedensbedingungen und drohten, andernfalls den Krieg fortzuführen, Deutschland zu besetzen und als politische Einheit aufzulösen.  In  dieser  Zeit  musste  die  Regierung,  unter  maßgeblicher  Beteiligung  der  SPD,

schwierige Entscheidungen treffen, die nicht nur die Partei vor eine Zerreißungsprobe stellten. Im Innern wurde die Revolution unterdrückt, was zum Mord an zahlreichen Menschen führte, die sich oft,  wie  Rosa   Luxemburg  und  Karl  Liebknecht,  bis  vor  kurzer  Zeit  mit  viel  Energie  und Überzeugung für die Ziele der Sozialdemokratie eingesetzt hatten. Der Bruch zwischen SPD und KPD wurde auf Jahrzehnte manifestiert, zum Teil ebenfalls mit Folgen bis heute. Nach außen wurde derVersailler Vertrag angenommen, obwohl auch die SPD diesen  für fundamental falsch hielt. Letztlich  konnte  damit  jedoch  die  Situation  stabilisiert  werden,  und die   Grundlage   wurde geschaffen für den sozialen Rechtsstaat der Weimarer Republik. Von Seiten der Rechtenwurden diese  Ergebnisse  jedoch  bekanntlich  nicht als  Erfolge  gesehen.  Stattdessen  verdrehte  man  die Geschichteund  lastete 'den Novemberverbrechern' der SPD die Niederlage des Krieges und die Krisen der Republik an. 

Wels war an den genannten Entscheidungen unmittelbar beteiligt und verkörperte die Zwänge und Konflikte der  Sozialdemokratie in seiner Person. Er hatte früh auf einen Kompromiss mit der Reichswehr   gedrängt,   verantwortete   einen   Schießbefehl   gegen   Spartakisten   und   war   von revolutionären Matrosen bedroht und misshandelt worden. Gleichzeitig spielte er im Generalstreik gegen den rechtsradikalen Kapp-Putsch eine zentrale  Rolle und drängte auf den Rücktritt von Gustav Noske, der die Morde der Freikorps sanktioniert hatte. Im Moment des Putsches gegen die sozialdemokratische Regierung  Preußens 1932 hatte Wels gegen einen aussichtslosen Generalstreik undBürgerkrieg gestimmt, aber wenig später auch verhindert, dass die SPD die Regierung des Generals  Kurt  von Schleicher unterstützte.  Trotz  der  problematischen  Folgen  mancher  dieser Entscheidungen lässt sich darin doch das klare Ziel erkennen, die staatliche Einheit und Stabilität Deutschlands zu wahren, ohne die Grundsätze der SPD preiszugeben.

Ein Bekenntnis zur Nation

In  Otto  Wels‘  Rede   kommt   daher   ein   grundsätzlicher   Widerstand   gegen   jede  Art   von Vereinnahmung der Nation und der Geschichte durch die Rechte zum Ausdruck. Der Verweis auf die Annahme des Versailler Vertrages  stellt  klar,  dass  die  SPD damals  aus  einem  Gefühl  der nationalen Verantwortung heraus handelte, während sich dieeigentlich Schuldigen in die Büsche schlugen. Das Bekenntnis zur Nation ist somit auch als eine direkte Antwort zu verstehen auf die Dolchstoßlegende und als eine Rechtfertigung der SPD-Politik in der Zeit seit 1918, die zugleich die Lügen Hitlers entlarvt.

Neben der Frage der Nation ist ein zweites wichtiges Element der Rede das unbedingte Bekenntnis zum Parlamentarismus. Hierbei muss man sich kurz vor Augen halten, dass das Ermächtigungsgesetz ein zumindest dem ersten Anschein nach legaler und verfassungsmäßiger Schritt war. Zum  Zeitpunkt der Debatte war der Rechtsstaat bereits faktisch außer Kraft gesetzt. Aber formal befand man sich noch vollkommen im Rahmen der Weimarer Verfassung. 

Rede Otto Wels

Auch dabei muss man bedenken, dass die Sozialdemokratie durchaus mit der liberalen Demokratie gerungen hatte. Der Verzicht auf eine revolutionäre Eroberung der Macht durch die Linke 1918 hatte die bereits erwähnte Spaltung der Arbeiterparteien unumkehrbar gemacht. Zudem bedeutete die Entscheidung für ein parlamentarisches System, dass Kernziele der Partei auf absehbare Zeit nichtzu erreichen wären. Hierzu zählte eine grundsätzliche Umverteilung des Besitzes ebenso wie eine Auswechselung der reaktionären Eliten in Militär,  Verwaltung, Justiz und Bildungswesen, sowiedie Herstellung echter Chancengleichheit. Im Konflikt zwischen revolutionärer Diktatur und demokratischem Kompromiss überwog jedoch klar die Entscheidung zugunsten derGrundfreiheiten und freien Wahlen.In der Zeit nach 1918 wurde die SPD zur wichtigsten Kraft, die sich für die Republik einsetzte.

Zivilcourage gegen Militarismus und Staatsterror

In Wels' Rede steckt daher eine doppelte Verteidigung der repräsentativen Demokratie. Inhaltlich wird  diese  auch  im Angesicht  unmittelbar  bevorstehender  bzw.  schon  eingesetzter Verfolgung verteidigt, wenn es etwa um die Pressefreiheit oder die Rechte des Reichstages geht, die aufgehoben werden sollen. Aber auch in der Form der Rede kommt diese Verteidigung zum Ausdruck. Wels ruft nichtzum bewaffneten Widerstand gegen Hitler auf, nicht einmal zum zivilen Ungehorsam. Diese aus heutiger Sicht falsche Zurückhaltung lässt sich auch als ein klares und mutiges Auftreten für den Parlamentarismus verstehen. Hitlers Regierung hat eine, zumindest ansatzweise, demokratisch legitimierte Mehrheit und im Umgang mit einer solchen Regierung sollen Argumenteüberzeugen und nicht rohe  Gewalt. Dies macht Wels' Rede durch ihren weitgehend nüchternen Stil deutlich. Hier kommt zivile Courage zum Ausdruck, die sich mit ihrer Logik ganz klar gegen Militarismus und Staatsterror richtet, wie ihn die Nazis verkörpern. Dadurch macht sich Wels nicht nur die Ziele, sondern auch die Mittel der liberalen Demokratie zu eigen, auch wenn die Voraussetzungen für eine diskursive Auseinandersetzung schon nicht mehr gegeben sind.

Schließlich ist auch wichtig, dass Wels die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust noch nicht erahnen konnte. Bei der Beurteilung der Lage konnten Wels und die anderen Beteiligten sich  nur an  Erfahrungen  der  Vergangenheit  orientieren.  Hierzu   zählte  für  die  SPD  das Sozialistengesetz, das die Partei von 1878 bis 1890 verboten hatte. Während dieser Zeit, in die auch diepolitische Sozialisierung des jungen Otto Wels fiel, war die  Partei  zwar formal verboten, im Untergrund jedoch sehr aktiv. Die vergleichsweise liberale Handhabung des  Gesetzes  erlaubte es der SPD, durch Tarnorganisationen eine Parteistruktur zu erhalten. Nach Aufhebung des Gesetzes

1890 nahm die Bedeutung und die Mitgliederzahl der SPD dann sehr rasch zu, bis sie 1912 deutlich stärkste Partei im Reichstag wurde. 1933 schien sich eine ähnliche Entwicklung abzuzeichnen. Ein Verbot der SPD war abzusehen. Die Lage war sehr ernst, und der bereits eingesetzte Terror gegen Sozialdemokraten und Kommunisten beeinflusste die Atmosphäre im Reichstag unmittelbar. Daher ist der berühmteste Satz der Rede “Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht”

durchaus ernstgemeint.Gleichzeitig war jedoch völlig unklar, wie sich das Regime verhalten würde, wenn es seine Macht erst einmal stabilisiert hatte. Die SPD-Führung musste davon ausgehen, dass dies nicht das völlige Ende jeglicher Parteiarbeit in Deutschland bedeuten würde und man aus dem Widerstand vielleicht sogar gestärkt hervorgehen könnte. Auf diese Hoffnung nahm Wels konkret Bezug. Damit unterschätzte er, dass der nationalsozialistische Totalitarismus von gänzlich anderer Qualität sein würde als der wilhelminische Obrigkeitsstaat. Mit dieser Fehleinschätzung war Wels jedoch  in  keiner  Weise  allein.  

Im  Zentrum  und  bei  den Liberalen  schwankte  die  Stimmung zwischen Furcht und Hoffnung. Einerseits gaben mehrere Zentrumsmitglieder später an, Angst um ihr Leben  gehabt  zu  haben und  deswegen  dem  Ermächtigungsgesetz  zugestimmt  zu  haben. Andererseits  verließ  man  sich  in  naiver  Weise  auf  Hitlers Zusagen,  einige  der  Weimarer Institutionen intakt zu lassen und die Rechte der Kirche zu respektieren. Gerade beim katholischen Zentrum spielte hier ebenfalls die Erfahrung mit dem Kulturkampf unter Bismarck eine wichtige Rolle, so dass man glaubte, dem Gesetz zustimmen zu können.

Das Nein der 94 SPD-Abgeordneten

Heute würde man  vieles anders und schärfer formulieren, als Otto Wels es damals tat. Aber in der Sache bleibt die Rede dennoch ein beeindruckendes Zeitdokument, das weit über den historischen Augenblick Bedeutung hat.  Moralisch ist die Rede und die folgende, geschlossene Abstimmung durchaus als Antithese zu sehen zur Unterstützung der Kriegskredite 1914 und zur Tolerierung der Freikorpsmorde   1918/19   durch   die   SPD.   Insoweit   ist   die   Rede   ein   wichtiges   Element sozialdemokratischer Traditionsbildung, auf das die SPD in ihrem Jubiläumsjahr Bezug nimmt und zuRecht stolz ist. Der Sozialwissenschaftler Iring Fetscher hat Recht, wenn er  feststellt: „Das ‚Nein‘  der94 sozialdemokratischen  Abgeordneten,  die noch nach  Berlin  kommen  konnten, vermochte  zwar dieverfassungsändernden Vollmachten des ‚Ermächtigungsgesetzes‘  nicht  zu verhindern, aber es wahrte wenigstens die Würde dieser standhaften Demokraten.”

*Der Autor Martin Albers, Jahrgang 1985,Master of Philosophy in Modern European History, ist Mitglied der SPD. Er promoviert zurzeit an der UniversitätCambridge über die britischen und westdeutschen Beziehungen mit China in der Zeit 1969 bis 1982.

 Die SPD-Fraktion erinnert an Otto-Wels

Autor*in
Martin Albers

Jahrgang 1985,Master of Philosophy in Modern European History, ist Mitglied der SPD. Er promoviert zurzeit an der UniversitätCambridge über die britischen und westdeutschen Beziehungen mit China in der Zeit 1969 bis 1982.

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