Wie haben Sozialdemokraten den Ersten Weltkrieg erlebt? Teil 1 der Serie: Ernst Reuter gerät in russische Gefangenschaft. Nach der Revolution steigt er in die höchsten Moskauer Kreise auf. Doch seine Begeisterung für die Sowjetrepublik währt nicht lange.
Obwohl Ernst Reuter Pazifist ist, packt ihn im August 1914 für kurze Zeit die Kriegsbegeisterung. Ausschlaggebend sind zwei Gründe: Erstens geht es ja gegen Russland, das den deutschen Arbeitern verhasste Zarenreich. Und zweitens hofft Reuter wie viele andere Sozialdemokraten, jetzt endlich den Ruf eines „vaterlandslosen Gesellen“ abstreifen zu können. Selbst seine Eltern, Angehörige des christlichen Bürgertums, haben ihm die finanzielle Unterstützung aufgekündigt, als er ihnen von seinem sozialdemokratischen Engagement erzählte. Also meldet sich der junge Mann freiwillig zum Militär. Vorerst kann er jedoch in der Heimat bleiben. Die Männer seiner Einheit werden beim Einbringen der Ernte gebraucht.
Trotz alledem ist Reuter bewusst, dass der Krieg für die Bevölkerungen der beteiligten Länder zuallererst eine große Katastrophe sein wird. Also schließt er sich im November 1914 dem „Bund Neues Vaterland“ an. Das ist eine Vereinigung von Kriegsgegnern aus allen sozialen Schichten, die einen schnellen Frieden, Demokratisierung und jeglichen Verzicht auf Annexionen fordern. Außerdem träumen sie von einem europäischen Staatenbund – und sind ihrer Zeit damit weit voraus.
Schreiber gegen den Krieg
Für den Bund erstellt Reuter eine Denkschrift, in der er das deutsche Macht- und Expansionsstreben vor dem Kriegsausbruch kritisiert. 200 Exemplare davon werden an Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und andere prominente Entscheidungsträger verteilt. Sie diskutieren die Schrift rege, auch wenn die Mehrheit der Diplomaten Reuters Kritik nicht teilt. Letztlich bleiben Aktionen wie diese aber wirkungslos. 1916 werden dem Bund Neues Vaterland – auch auf Druck der Militärs – sämtliche Aktivitäten untersagt.
Reuters Abscheu gegen den Krieg wächst weiter an. Im März 1915 erfährt er, dass sein älterer Bruder Hermann in Flandern gefallen ist. Kurz darauf wird auch Ernst einberufen. Seine Einheit wird zunächst in die Argonnen an der Westfront verlegt. Von Ratten und Läusen berichtet Reuter in seinen Briefen in die Heimat, von Langeweile und täglichem Tod. Im Sommer 1916 erfährt er, dass sein jüngerer Bruder Edzard in einer Schlacht durch Giftgas verletzt worden ist. Dieser wird drei Jahre später an den Spätfolgen sterben.
Etwa zur selben Zeit wird Ernst Reuters Einheit an die Ostfront verlegt. Bei einem russischen Angriff gerät er in Kriegsgefangenschaft. „Ich war mit einem gebrochenen Oberschenkel liegengeblieben und konnte von den Kameraden meines zurückflutenden Bataillons nicht mehr mitgenommen werden“, schreibt er später. Sein Bein, von zwei Schüssen zerfetzt, heilt nie ganz aus – von da an benötigt Reuter stets einen Gehstock.
Propagandist für den Sozialismus
Nach einem Lazarettaufenthalt kommt Reuter in ein Kriegsgefangenenlager 200 Kilometer nordöstlich von Moskau. Dort lernt er Russisch. Aus Abscheu vor den Eliten in Deutschland, die das Land in den Krieg getrieben haben, wird er immer radikaler und beginnt, unter seinen Mitgefangenen den Sozialismus zu propagieren. Die Februarrevolution, die den Zaren vom Thron stößt, bekommen die Lagerinsassen allerdings nur am Rande mit.
Im Sommer 1917 wird Reuter zum Arbeiten in ein Kohlebergwerk in der Nähe des Dorfes Sawinsk in der Region Tula verlegt. Da stellt die Oktoberrevolution sein Leben auf den Kopf. Das Dorf Sawinsk wird sowjetisiert, der Besitzer des Kohlebergwerks enteignet. In dem Dorf kann kaum jemand Lesen und Schreiben, geschweige denn ein Bergwerk organisieren. Also wird Reuter, der eloquente, russisch sprechende Kriegsgefangene mit der Leitung beauftragt.
Damit beginnt ein rasanter Aufstieg, der Reuter bis in die obersten Zirkel der Bolschewiki führt. Im Auftrag des Dorfes reist er in die nächste große Stadt, Tula, um mit den neuen Behörden über das Bergwerk zu sprechen. Die Bolschewiki in Tula sind so beeindruckt von ihm, dass sie ihn nach Moskau schicken, wo Reuter in ein sozialistisches, internationales Kriegsgefangenen-Komitee gewählt wird. Er soll nun in offiziellem Auftrag die Ideen der Revolution unter die Kriegsgefangenen tragen.
Kommissar im Auftrag Lenins
Reuter lernt Lenin, Stalin und andere Regierungsmitglieder kennen. Diese schicken ihn im April 1918 in die deutsch besiedelten Gebiete an der Wolga. Dort soll er als Kommissar für deutsche Angelegenheiten ein sowjetisch organisiertes Autonomiegebiet aufbauen und die Ideologie der Bolschewiki verbreiten. Es ist eine brisante Aufgabe, denn durch den politischen Umsturz herrscht Anarchie. Immer wieder plündern bolschewistische Kämpfer die Bauern im Wolgagebiet aus, angeblich im Namen der Sowjetunion. Angehörige der Geheimpolizei Tscheka verbreiten Angst und Schrecken. Dennoch gelingt es Reuter vorübergehend, einigermaßen Ordnung zu schaffen, die Dörfer auf seine Seite zu ziehen und die schlimmsten Exzesse zu stoppen.
In die Heimat Berlin kehrt Reuter erst zurück, als er von der Novemberrevolution hört. Als Vertreter der russischen Sowjets gründet er die Kommunistische Partei Deutschlands mit und steigt bis zum Generalsekretär auf. Doch Ende 1921 überwirft er sich mit der Partei. Dass die Parteiführung sich völlig immun gegen Kritik gebärdet, jede offene Debatte unterdrückt und Fehler einfach vertuscht, bringt Reuter gegen die Kommunisten auf. Auch Anbetung militärischer Gewalt wirft er ihnen vor.
Reuters anfängliche Euphorie, sein Glaube an die russischen Revolutionäre wird enttäuscht. Die Erfahrungen mit der deutschen KPD und auch der Terror der Bolschewiki in Russland machen ihn zum Antikommunisten. Er beschließt, nach einem demokratischen Weg zum Sozialismus zu suchen und hält mit eisernem Willen an diesem Weg fest. Jahrzehnte später ruft er als Bürgermeister von West-Berlin die Bevölkerung zum Durchhalten auf – gegen den Versuch Stalins, auch diese Stadt zu sowjetisieren. Von einem „Sieg über die Macht der Finsternis“ spricht er, als West-Berlin mit der Luftbrücke gegen die Begehrlichkeiten Moskaus verteidigt wird.
arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.