"Sie haben Jaurès umgebracht!", hallte es am Abend des 31. Juli 1914 durch die Straßen von Paris. Mit dem Führer der französischen Sozialisten wurde wenige Tage später auch der Frieden zu Grabe getragen und in Europa brach der Erste Weltkrieg aus.
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel war am 31. Juli nach Paris gekommen, um zusammen mit Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande einen Kranz zu Ehren Jaures niederzulegen. „Es war mir ein besonderes Anliegen, den Respekt und die Hochachtung der deutschen Sozialdemokratie vor dem Sozialistenführer Jaurès an diesem Tag persönlich zum Ausdruck bringen zu können. Besonders gefreut hat es mich, dass Präsident Hollande meinen Vorschlag zu einer gemeinsamen Kranzniederlegung aufgegriffen hat“, so Gabriel in Paris. Jaurès sei „ein großer Europäer“ gewesen, der sich – als „pazifistischer Patriot“ – immer um zwischenstaatliche Verständigung und um Völkerfreundschaft bemüht habe, erklärte er. Jaurès Vermächtnis, sein Kampf für Frieden und Europa bleibe gerade in der heutigen, krisengeplagten Zeit mit Blick auf Frieden, Kooperation und Verständigung in Europa hochaktuell, so der SPD-Vorsitzende. Jaurès und seine klare Anti-Kriegs-Haltung seien ein „leuchtendes Beispiel.“
Jean Jaurès erkannte früh die Gefahr, die in den steigenden Spannungen zwischen den Ländern Europas lag und versuchte gegenzusteuern. In gemeinsamen Aktionen der Sozialisten, mitunter auch in Streiks oder Aufständen, sah er einen möglichen Weg die Situation zu deeskalieren. 1907 brachte Jaurès dies auf dem Stuttgarter Kongress der Internationale zur Sprache. August Bebel und die SPD stellten sich jedoch dagegen. Sie befürchteten, dass die SPD in Deutschland verboten werden könne, wenn sie die radikalen Pläne Jaurès unterstützen würden.
Jaurès der Friedenskämpfer
Jaurès arbeitete daher in seinen letzten Lebensjahren auf diplomatischer Ebene, um das zu verhindern, was der Erste Weltkrieg werden sollte. 1911 publizierte er das Buch "L’Armée nouvelle", in welchem er nach Schweizer Vorbild die Errichtung eines Milizsystems forderte. Im Folgejahr rief er auf dem Baseler Kongress zum Kampf gegen die Kriegsvorbereitungen auf. Und 1913 stellte er sich gegen Émile Driants Gesetz, das eine Anhebung der Wehrflicht auf drei Jahre vorsah.
Unter den französischen Nationalisten machte ihn diese pazifistische Haltung sehr unbeliebt. Doch Jaurès kämpfte weiter. Am 31. Juli 1914 traf er im Außenministerium auf den Unterstaatssekretär Abel Ferry. Jaurès meinte zu ihm, er würde sein Engagement gegen den Krieg fortführen. Daraufhin antwortete Ferry, dass er glaube, dass man Jaurès dann wohl an der nächsten Ecke töten werde…
Der Weg zum Führer der Sozialisten
1859 geboren, wuchs Jaurès in ärmlichen Verhältnissen auf. Mit Hilfe eines Stipendiums studierte er in Paris und arbeitete danach zunächst an den Universitäten von Albi und Toulouse bis er im Jahre 1885 zum Abgeordneten der Republikaner gewählt wurde. Zu dieser Zeit hält er die Sozialisten für die sich stabilisierende, junge Dritte Republik für zu gefährlich.
Trotzdem war ihm das Wohlergehen der Arbeiterklasse nicht egal. "Ich habe nie einen Unterschied gemacht zwischen Republik und den Idealen von sozialer Gerechtigkeit, ohne die erstere nur ein Wort ist", sagte er 1887 in einer Rede. Und so stimme Jaurès aus Überzeugung für erste Sozialgesetze, wie das der Gewerkschaftsfreiheit oder der Schaffung von Arbeiterpensionskassen.
Den Monarchisten seines Wahlkreises war der linksorientierte Republikaner ein Dorn im Auge. Auf ihr Bestreben verlor Jaurès 1889 die Wahl. Drei Jahre später brach im Wahlkreis der große Streik der Minen von Carmaux aus. Die Minenarbeiter forderten die Wiedereinstellung eines Kumpels, den sie zum Bürgermeister gewählt hatten. In Anbetracht des Streiks sendete die Regierung eine Armee mit 1500 Soldaten aus. Ein Vorgehen das Jaurès entsetzte, da die Republik damit die Interessen der Industrie über die Einhaltung des republikanischen Rechts stellte.
Jaurès begann sich an der Seite der Bergarbeiter zu engagieren. Er galt als ein begnadeter Redner und auch in persönlichen Gesprächen bewies er rhetorisches Geschick. Ein Talent, das es ihm ermöglichte, die Regierung im Konflikt letztendlich auf die Seite der Streikenden zu bringen. Spätestens jetzt zeigte sich, dass in dem bürgerlichen Intellektuellen ein wahrer Sozialist schlummerte.
Nach dem Streik schloss sich Jaurès der sozialistischen Arbeiterbewegung an und vertrat die Sozialisten in der Nationalversammlung von 1893 bis 1898 und von 1903 bis 1914. Als sich 1902 die sozialistischen Parteien über eine Kooperation mit der Regierung stritten, wurden zwei sozialistische Parteien gegründet. Jaurès gelang der große Sprung und wurde zum Führer der neuen Partei Socialiste Français. Im Gegensatz zur Parti socialiste de France von Jules Guedes tolerierte sie die Regierungspolitik.
Verfechter des Reformsozialismus
"Tradition heißt nicht, Asche zu verwahren, sondern eine Flamme am Brennen zu halten", wird Jaurès oft rezitiert. Der Franzose verstand sich als Reformsozialist und war Befürworter von Koalitionen mit bürgerlichen Parteien, wenn sie zur Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft taugten. Der marxistische Flügel der Sozialisten blieb der Hoffnung treu, dass die Arbeiter mit der Zeit von allein triumphieren würde. Koalitionen waren für sie ein Unding.
Diese marxistische Linie wurde von den Führern der deutschen Sozialdemokratie unterstützt. Auf dem Sozialistenkongress der zweiten Internationalen kam es 1904 in Amsterdam zu einem Rededuell zwischen Jaurès und August Bebel. Am Ende stimmte der Kongress für eine Resolution Bebels. Diese untersagte den sozialistischen Parteien die Annäherung an das bürgerliche Lager. Den von Jaurès eingeschlagenen Weg, die eigenen Ziele über Bündnisse mit bürgerlichen Parteien zu verwirklichen, sollte Bebels Partei erst nach dem Weltkrieg einschlagen.
Des Weiteren wurden auf dem Amsterdamer Kongress die französischen Sozialisten aufgefordert, sich zusammenzuschließen. Ein Jahr später gründete man die Section Française de l’Internationale Ouvrière (SFIO). Als einer ihrer Führer setzte sich Jaurès in den folgenden Jahren für eine Verständigung mit Deutschland und die Sicherung des Friedens ein.
Am Abend des 31. Juli 1914 hatte sich Jean Jaurès mit ein paar Kollegen im Café du Croissant getroffen, als plötzlich eine Pistole durch das offene Fenster ragte und zwei Schüsse fielen. Abgefeuert wurden sie von dem französischen Nationalisten Raoul Villain. Jaurès sackte sofort zusammen.