Einen Versuch, die Nadel im Heuhaufen zu finden und Willy Brandts Leben einmal ganz anders darzustellen hat die Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung gewagt und erfolgreich abgeschlossen. Bei
"Willy Brandt - Ein politisches Leben im 20. Jahrhundert" handelt es sich um eine Art Begleitbroschüre zur Ausstellung im Willy-Brandt-Hauses Lübeck. In sieben Räumen hat das Willy Brand Haus das
Leben seines Namensgebers chronologisch und nach thematischen Schwerpunkten aufgearbeitet. Dieser Spaziergang durch die jüngste Geschichte Deutschlands an der Seite Brandts gibt der Autobiografie
die Struktur. Entsprechend den Räumen ist das Buch in sieben Kapitel gegliedert. Dies sind: die Kindheit und Jugend in Lübeck 1913-33, der Widerstand im Exil 1933-1947, Berliner Jahre 1947-1966,
Regierungsverantwortung in Bonn 1966-1974, "Willy wählen", Globales Engagement 1977-1992 und Willy Brandts Impressionen.
Eine Bildergalerie aus 240 Abbildungen
Rund 240 Abbildungen - unterstützt von knappen prägnanten Texten - geben Einblick in das Leben des bedeutenden Sozialdemokraten. Dazu zählen Bilder aus dem öffentlichen und privaten Leben
Brandts ebenso wie Abdrucke von Originaldokumenten. So ist er posierend als Herbert Frahm vorm kleinen Einfamilienhaus der Großeltern zu sehen, wo er im Süden Lübecks aufwuchs sowie auf einem
Gruppenbild im Kreise von Sozialdemokraten, mit denen er schon in frühen Jahren in Kontakt kam.
Sein Abiturzeugnis, seinen norwegischen Pass von 1940, den er beantragte nachdem er 1938 von den Nationalsozialisten ausgebürgert worden war sind ebenfalls ausgestellt. Sein Brief als
Regierender Bürgermeister von Berlin an John F. Kennedy 1961, die Urkunde für den ihm 1971 verliehenen Nobelpreis, Ausschnitte aus seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 sowie seine
handschriftliche Rücktrittserklärung vom Amt des Bundeskanzlers an den damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann aus dem Jahr 1974 gehören gleichfalls zum Dokumentenfundus.
Daneben findet der Leser bekannte Bilder wie etwa vom Kniefall vor dem Mahnmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto (1970), den fast die Hälfte der Bundesbürger für übertrieben hielt, so
die damalige, ebenfalls dargestellte "Spiegel"-Umfrage oder das Foto, das ihn während seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung in New York 1973 zeigt, aber auch jenes auf welchem er Mandoline
spielend im Biergarten mit einer Zigarette im Mund zu sehen ist. Letzteres findet sich als großformatiges Poster heute in vielen Stuben wieder und ist zum Inbegriff für Freiheit, Kritik am
Establishment sowie Unbekümmertheit der Nachfolge-Generationen geworden.
Kurzbiographien offenbaren Brandts Netzwerk
Wer allerdings eine Nadel im Heuhaufen finden wollte, die sich durch besondere Details und Tiefe auszeichnet, der sucht vergeblich. Das Interessante und die Stärke dieser
Willy-Brandt-Porträtierung liegen vielmehr in der Themenbreite. Brandt wird im komplexen historischen Zusammenhang dargestellt. Fortwährend werden Bögen zu den Ereignissen aus der Zeit
geschlagen, so dass die Wechselwirkungen zwischen ihm und den Geschehnissen deutlich hervortreten. Der Leser bekommt einen Überblick über bedeutende Persönlichkeiten, deren Wege sich mit Brandt
kreuzten. Der Mehrwert des Ausstellungskatalogs liegt in den Kurzbiographien genau dieser Akteure sowie den Hintergrundinformationen zu zentralen historischen Ereignissen.
Das so erzeugte Netzwerk wirkt wie ein Auffangbecken und dient als Orientierung auf der Entdeckungstour zu der schillernder Politikfigur Willy Brandt. Entstanden ist ein Werk, das die
privaten, sozialen und politischen Beziehungen Willy Brandts in einer sehr anschaulichen und überzeugenden Art und Weise rekonstruiert hat. Es macht neugierig und animiert weiterzurecherchieren,
um am Ende vielleicht doch noch die Nadel zu finden, für die der Leser sich persönlich in den Heuhaufen gestürzt hat.
Martin Leibrock
Willy Brandt. Ein politisches Leben im 20. Jahrhundert. Die Ausstellung im Willy-Brandt-Haus Lübeck. Katalog von Katharina Bieler, Lübeck 2009, Preis 15 Euro