Geschichte

Der Mann, den Hans-Jochen Vogel und Peter Glotz bewunderten

Er kämpfte gegen den Nationalsozialismus, für den Wiederaufbau der SPD nach 1945 und SPD-Größen wie Hans-Jochen Vogel oder Peter Glotz bewunderten ihn: Waldemar von Knoeringen. Am 2. Juli 1971, vor 50 Jahren, starb der bayerische Sozialdemokrat.
von Dietmar Süß · 2. Juli 2021
Waldemar von Knoeringen (von links) an der Seite von Erich Ollenhauer und Herbert Wehner bei den SPD-Vorstandswahlen im Mai 1958.
Waldemar von Knoeringen (von links) an der Seite von Erich Ollenhauer und Herbert Wehner bei den SPD-Vorstandswahlen im Mai 1958.

Wenn man Hans-Jochen Vogel oder Peter Glotz fragte, wen sie besonders bewunderten, dann nannten beide immer wieder einen Namen: Es war der eines inzwischen weitgehend Vergessenen, eines ebenso charismatischen wie nachdenklichen Sozialdemokraten aus Oberbayern, der gegen den Nationalsozialismus gekämpft und den Wiederaufbau der SPD nach 1945 entschieden vorangetrieben hatte: Waldemar von Knoeringen, der am 2. Juli 1971, heute vor 50 Jahren, überraschend verstarb.

Nur noch wenige erinnern sich an diesen ungewöhnlichen Genossen, der die politische Kultur des Freistaates und der sozialdemokratischen Reformdebatten im Umfeld des Godesberger Programms entscheidend mitgeprägt hat. Knoeringen, 1906 geboren, stand zwischen 1947 und 1963 an der Spitze der bayerischen SPD – und war von 1958 bis 1962 stellvertretender Bundesvorsitzender. Er gehörte zu den Architekten der legendären „Vierer-Koalition“ der Jahre zwischen 1954 und 1957, die die CSU auf die ungewohnten Oppositionsbänke gedrängt hatte. Der „rote Baron“ war ein erfahrener Parlamentarier, Fraktionsvorsitzender im Münchner Maximilaneum und immer wieder auch einmal im Gespräch für ein Ministeramt in Bonn. Doch hätte er wählen müssen zwischen einer Diskussionsrunde mit jungen Leuten in der von ihm so geliebten „Georg-von-Vollmar“ in Kochel und einer Sitzungswoche in Bonn – die Entscheidung wäre ihm vermutlich nicht schwergefallen. Einen „Machtmenschen“ wird man Knoeringen kaum nennen können. Dem „Spiegel“ war es Ende 1959 eine eigene Meldung wert, dass Knoeringen, „der als letzter des SPD-Spitzengremiums seinen Urlaub“ antrete, seine Mitarbeiter darüber informiert habe, „daß er während der Ferien telephonisch nicht erreichbar sei. Knoeringen will in den bayrischen Bergen zelten.“

Flucht vor dem Nationalsozialismus ab 1933

Aber aus solcher Zurückhaltung sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen. Waldemar Knoeringen war 1926 in die SPD eingetreten. "Mein Weg zur Sozialdemokratie", schrieb er über seinen Parteibeitritt, "ging über Ferdinand Lassalle. Als 18-Jähriger, interessiert an den Fragen der Politik, griff ich in meines Vaters Bibliothek. Das kleine Bändchen "Über die gegenwärtige Geschichtsperiode und die Idee des Arbeiterstandes" fiel mir in die Hände.“ Bücher hatten es dem Gründer einer Arbeiterbibliothek in Rosenheim angetan, und früh stieg der rhetorisch versierte Knoeringen zu einem wichtigen Funktionsträger der Sozialistischen Arbeiterjugend Münchens auf. Ein leidenschaftlicher Gegner des Nationalsozialismus war er schon vor der „Machtergreifung“, und bereits im März 1933 musste er nach Österreich fliehen. Als Mitglied der linkssozialistischen Gruppe „Neu Beginnen“ organisierte er von dort aus den Widerstand in Süddeutschland mit. 1934 floh er weiter nach Prag, von dort 1938 nach Paris und schließlich kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs nach London.

Die Erfahrungen des Exils, vor allem in Großbritannien, markierten in Knoeringens Leben eine tiefgehende Zäsur und prägten seine Überzeugungen. Ob die Bekanntschaft mit der Labour Party als einer parlamentarisch-pragmatisch ausgerichteten, nicht von marxistischer Dogmatik geprägten Arbeiterpartei, die ihre Wähler*innen und Anhänger*innen auch jenseits der Arbeiterklasse fand, die selbstverständliche Offenheit und Toleranz der Fabian Society, die den Emigrant*innen wichtige Diskussionsforen eröffnete, oder auch der Labour-Wahlsieg unmittelbar nach Kriegsende, in den man große Hoffnungen auf Unterstützung setzte – all dies trug entscheidend dazu bei, dass sich Knoeringen nach seiner Rückkehr insbesondere für Bildungspolitik und Demokratisierung engagierte und er damit auch zu einem wichtigen Impulsgeber für die kulturelle Öffnung der Sozialdemokratie werden sollte.

Sozialistische Zukunft: Den Wandel gestalten

Was er zudem aus dem Exil mitbrachte, war sein Interesse an den neueren wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen der – heute würden wir sagen – globalisierten Welt. Schon früh war er davon überzeugt, dass die Zukunft des demokratischen Sozialismus nur in Verbindung mit der Gestaltbarkeit des technologischen Wandels stehen konnte: Wer eine zukunftsfähige Politik machen wollte, musste auch die aktuellen Debatten der Philosoph*innen, Physiker*innen und Ingenieur*innen kennen, davon war Knoeringen überzeugt. Wie nur wenige andere Sozialdemokrat*innen war er damit ein „Kulturpolitiker“ im ganz eigenen Sinne: Denn „Kultur“ – das war für Waldemar von Knoeringen die „Summe allen menschlichen Tuns, die natürliche Umwelt zu formen und die sittlichen Kräfte der menschlichen Persönlichkeit zur Wirkung zu bringen.“

Zur „Schicksalsfrage der Demokratie“ erhob Knoeringen die politische Bildung, die das Fundament für die „industrielle Zivilisation“ bilden und auf das „Ganze des Menschen und seine Mitmenschlichkeit“ gerichtet sein sollte. „Unser Ziel“, so hatte Knoeringen es bereits 1965 formuliert, ist „die demokratisierte Gesellschaft“. Für die Sozialdemokratie müsse es künftig mehr denn je um die Aufgabe gehen, „alle Bereiche des öffentlichen Lebens mit dem Geiste sozialer Demokratie zu durchdringen, die starren Formen überlebter Ordnung aufzulockern und das demokratische Element überall zu wecken, wo Mitverantwortung möglich ist.“ Das klang damals schon entschiedener als bei manch anderem in seiner Partei – und es klingt auch heute wahrlich nicht von vorgestern.

Autor*in
Dietmar Süß

ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg.

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