Geschichte

Der Anti-Sarrazin

von Uwe Knüpfer · 8. Dezember 2010
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Berlin, 8. Dezember 2010. Im Senatssaal der Humboldt-Universität hören rund 400 Gäste der dritten "Willy-Brandt-Lecture" zu, angekündigt als eine "klärende Grundsatzrede" zu den Zusammenhängen zwischen Zuwanderung, Islamisierung, Parallelgesellschaften und Intoleranz. Huber stellt die Sarrazin-Debatte vom Kopf auf die Füße, mit der Kraft des Arguments. Er gibt den Anti-Sarrazin.

Eingangs zitiert Wolfgang Huber Willy Brandt, "den aus Lübeck stammenden Berliner", der 1971 (!) einen "Mangel an schlichter Freundlichkeit" gegenüber den damals zwei Millionen "Gastarbeitern" beklagt hat und die Fähigkeit, Zuwanderer zu integrieren, eine "permanente Reifeprüfung der Völker" nannte, die "noch nirgends mit Auszeichnung bestanden" worden sei. Huber: "Ich möchte meinen Respekt bekunden vor dem, der 1971 so geredet hat." Brandts Rede folgten der Anwerbestopp, Nachzugsbeschränkungen und die Verschärfung des Asylrechts.

Heute, so Huber, leben in Deutschland bald 16 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte, darunter sieben Millionen mit anderer oder doppelter Staatsangehörigkeit: Ausländer. Zu- und Abwanderung halten sich in etwa die Waage. Deutschland sei also kein Zuwanderungs-, sondern ein Migrationsland.

Wer Ängste hat, sucht Sündenböcke

Nur jeder vierte der 16 Millionen sei Moslem - "die Zahl der Katholiken ist immer noch größer" -, wovon sich wiederum nur jeder fünfte als Moscheegänger bezeichne. Huber: "Warum reden wir über Muslime? Warum nicht über Menschen aus der Türkei, aus dem Libanon, aus Saudi-Arabien?" Er bat um "Respekt vor der multiplen Identität jedes Menschen". Es sei generell unzulässig, Menschen nur nach einer ihrer Identitäten zu charakterisieren, etwa ihrer Religionsangehörigkeit.

Die "Unterjüngung" der deutschen Gesellschaft löse Ängste aus. Irrationale Ängste, etwa vor Migranten, die kinderreicher sind als alt-deutsche Familien. Huber: "Eine Gesellschaft, deren Alterspyramide auf dem Kopf steht, hat es schwer, optimistisch in die Zukunft zu schauen." Wer Ängste hat, sucht Sündenböcke. Das war immer so. Eine demokratische Gesellschaft beweise sich aber dadurch, dass sie solche "Sündenbockmechanismen" durchschaut und entmythologisiert. Es gelte, den "Schleier von Vorurteilen" zu lüften.

So sei festzuhalten: "In vielen empirisch fassbaren Bereichen ist Integration gut gelungen." Am augenfälligsten im Sport - bis hin zur Fußballnationalmannschaft - und im Bildungssystem. "Ein generelles Katastrophenszenario ist unangemessen."

Drei Rechte für Alle

Das klang wie: Sarrazin? Mangelhaft! Setzen! Aber der ehemalige Berliner Landesbischof ist viel zu höflich, so zu sprechen. Er setzte einfach Sarrazins Menschenbild in Kontrast zu dem Willy Brandts. Das genügte. Brandt habe 1971 drei Rechte eingefordert, im Blick auf Zuwanderer, die man damals noch nicht so nannte: das Recht auf Ebenbürtigkeit, das Recht auf Gleichheit und das Recht auf gute Nachbarschaft. Huber deklinierte diese Rechte durch - und fand Anlass zu Tadel in alle Richtungen.

Wo Thilo Sarrazin einen Zusammenhang herstelle zwischen Herkunft und Intelligenz, stelle er die von Willy Brandt postulierte Ebenbürtigkeit aller Menschen in Frage. Natürlich falle es Kindern aus bildungsfernen Familien schwerer, ihre Talente zu entwickeln als Kindern aus dem Bildungsbürgertum. Huber: "Eine besonnene Bildungspolitik fördert alle." Übrigens auch "Hochbegabte aus allen Schichten". Daran hapere es, sagte Huber, Blickkontakt zu seiner Frau suchend, die Lehrerin ist. Er forderte en passant ein gebührenfreies erstes Kindergartenjahr.

Gleichheit: Wer sich auf sein christliches oder jüdisches Menschenbild berufe, könne keine Klassifizierung irgendeiner Art zulassen. Die "Anerkennung des Menschen durch Gott" begründe die "gleiche Würde Aller". Huber: "Wir sind verschieden und doch gleich." Das sei der "universalistische Kern des Juden- und Christentums." Sarrazin? Setzen, sechs!

Gute Nachbarschaft: Hier hapere es oft, auf beiden Seiten. Eine "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" macht Huber nicht nur bei Deutschen mit weiter zurückliegendem Migrationshintergrund aus, sondern auch bei manchen Zuwanderern. Mit Menschenfeindlichkeit "bekommen es auch deutsche Schüler zu tun." Schlicht, weil sie Christian heißen. Oder wenn sie als "Schweinefleischfresser" beschimpft werden. Oder als "schwul", weil sie "sich durch Leistungsbereitschaft hervortun."

Deutschland schafft sich nicht ab

Leider gehöre zum Islam die Vorstellung von der Überlegenheit dieser Religion über andere. Huber: "Er vertritt eine einseitige Interpretation der Religionsfreiheit." Der Islam kenne nur die Freiheit des Übertritts zum Islam, stelle aber die Abkehr vom Islam unter Strafe. Das sei ein Problem. Eines, das dem Christentum nicht fremd sei, hier aber überwunden worden ist. Der Islam müsse folgen: "Er muss seine Vorstellung von Religionsfreiheit klären."

Das gelte auch für die Türkei, wenn sie zu Europa gehören will. Auch müsse die Mehrheitsgesellschaft darauf bestehen, dass hierzulande alle Geschlechter gleichberechtigt sind und die Todesstrafe abgeschafft ist. Solche Prinzipien zu akzeptieren, heiße nicht, sich der Mehrheitsgesellschaft zu unterwerfen, sondern zeige Interesse an Kommunikation und Teilhabe. Und ohne Kommunikation und Teilhabe finde keine Integration statt. "Aus beziehungslosen Parallelgesellschaften entsteht nichts Gemeinsames".

Teilhabe müsse möglich gemacht, aber auch eingefordert werden; tolerant, aber eben kraftvoll und mit Überzeugung. Huber in Richtung der Burka-Apologeten: "Wer nach allen Seiten hin offen ist, ist nicht mehr ganz dicht."

Nein, Deutschland schafft sich nicht ab, könnte Wolfgang Hubers Fazit lauten, aber es wird sich verändern - in welche Richtung, das liegt an uns allen; denen, die schon länger da sind, und denen, die hinzukommen.

Autor*in
Uwe Knüpfer

war bis 2012 Chefredakteur des vorwärts.

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