Geschichte

Der alltägliche Wahnsinn

von Dagmar Günther · 7. Januar 2010
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Für kurze Zeit schwiegen sie: die Feuilletonisten, Wissenschaftler und Politiker. Zu überwältigend war diese Friedliche Revolution im Herbst 2009, zu leibhaftig die Erinnerung nach 20 Jahren. Doch die Diskussion um das, was da stattfand, um das Davor und um das Danach ist längst nicht beendet. Sie muss weitergeführt werden. Ein dafür sehr hilfreiches Buch ist unter Federführung von Ines Geipel und Andreas Petersen entstanden. Sie haben 33 exemplarische Porträts geschrieben: Schicksale "aus einem untergegangenen Land, quer durch vier Jahrzehnte und durch das gesamte 'Kollektiv Ost', eingebettet in historische Fakten", so verspricht es der Klappentext. Und so setzen es die Autoren von Fall zu Fall um. Sie erzählen von denen, die unter dem SED-Regime zu leiden hatten.

Geschichten...

Zu Wort kommen hier jedoch nicht die üblichen Bürgerrechtler und Dissidenten, sondern mehr oder weniger unbekannte Menschen verschiedenster Schichten mit ihren Geschichten: ein geschasster Unternehmer der frühen DDR, die verschollene Tochter Walter Ulbrichts, Angehörige von Mauertoten, der Attentäter Erich Honeckers, die wiederständischen Nonnen im Eichsfeld, eine Schülerin, die mit 15 Jahren von der Stasi verpflichtet wurde, ein Wissenschaftler im Dienste des Staates, ein U-Bootfahrer, ein Kohlearbeiter, eine Bäuerin, ein Zeuge Jehovas... Sie berichten vom ganz alltäglichen Wahnsinn, ihrem konkretem Leben in der DDR mit all den Hoffnungen, Brüchen, Zufällen, Lieben und Krisen, dem kleinem und dem großen Glück vom Scheitern und vom Neuanfang.

... und Geschichte

Es sind persönliche Erinnerungen, die sehr nahe gehen und die Geschichte so lebendig machen, dass es weh tut. Sie sollten Eingang finden in die Diskussion und dürfen nicht vergessen werden. Weder die der Studentin Edeltraut Eckert, die wegen ihres Einsatzes für die Freilassung von NKWD-Gefangenen 1950 in der Strafvollzugsanstalt Waldheim landete. Ihrer Studienzulassung für ein Pädagogikstudium an der Humboldtuni Berlin hatte sie ein Schreiben zugefügt, in welchem es unter anderem hieß: "Ein Lehrer sollte seine Passion darin finden, die 'Erziehung zur uneingeschränkten Entfaltung und freien Meinungsäußerung des jungen Menschen' zu fördern und 'nicht darin, ihm eine bestimmte politische Richtung aufzudrängen.'" Noch die des Künstlers Werner Kilz, der 1961 in den Westen floh und am eigenen Leibe erfuhr, was es hieß "Emigrant in der eigenen Sprache..., dem DDR-Körper zwar entkommen, aber wo eigentlich gelandet zu sein?" Es gilt noch so viel zu klären. Dann wird manches klarer werden, doch noch längst nicht alles klar sein.


Ines Geipel / Andreas Petersen: Black Box DDR. Unerzählte Leben unterm SED-Regime, marixverlag, Wiesbaden 2009, 320 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-86539-211-4

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Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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