Geschichte

Das Leben als ständige Vertreter in Ostberlin

Vor 40 Jahren zogen Elsa und Werner Stewen, glühende Anhänger von Willy Brandt und seiner Ostpolitik, aus dem beschaulichen Bonn nach Ostberlin. Dort verbrachten sie fünf aufregende Jahre als Mitarbeiter der ständigen Vertretung.
von Renate Faerber-Husemann · 22. Oktober 2014
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Nach dem Mauerfall erfuhr das Ehepaar, dass sie bei der Stasi unter den Decknamen „Venus“ und „Stern“ geführt worden waren. Darüber lachen sie heute noch. Ihre Adresse war damals Weißensee, Ho-Chi-Minh-Straße 2, 14. Stock. Die Stewens, längst wieder im schönen Remagen am Rhein zu Hause, erzählen so lebendig und begeistert von diesen Jahren, als sei dieser Umzug in eine fremde Welt gestern gewesen und nicht 1974.

Der Ostberliner Alltag verlieh Flügel

Der Jurist  Werner Stewen aus dem Bundesjustizministerium gehörte zur ersten Mannschaft der Ständigen Vertretung unter der Leitung von Günter Gaus. Über ihn redet das Ehepaar heute noch voll liebevoller Bewunderung. In Ostberlin zu wohnen, war für alle Mitarbeiter Pflicht. Den schwierigen Alltag zu meistern, war vor allem die Aufgabe von Elsa Stewen. Sie unterschlägt nicht, wie mühsam vieles war, dennoch ist kein klagender Unterton zu hören. Offen und neugierig ließen beide sich auf das neue Leben ein. Die Kinder gingen in Westberlin, in Charlottenburg, zur Schule. Das war jeden Tag eine beschwerliche Weltreise. Es gab Alltagsschikanen beim Einkaufen, es gab häufig Stromausfälle, dann fuhr der Aufzug nicht und es gab kein Wasser. Die ersten drei Monate hatte die Familie kein Telefon. Als eines der Kinder hohes Fieber bekam, hatten die Stewens große Mühe, einen Arzt zu finden. Niemand fühlte sich für sie zuständig.

Die Stasi war allgegenwärtig, das war wohl auch der Grund dafür, dass Ostberliner Nachbarn den Kontakt zu den Diplomaten aus dem Westen mieden. „Unser Sohn spielte in einer Ostberliner Fußballmannschaft, doch die Kinder, die er dort kennenlernte, durften ihn nicht besuchen. Die Eltern hatten wohl Angst vor der Stasi. Andere dachten, wir seien vom  BND“, erzählt Elsa Stewen.

Warum ließ sich die junge Familie auf dieses Abenteuer ein? Sie hatten zwar ein gutes Leben in Bonn,  aber suchten eine Herausforderung und fanden diese auch. „Ich hatte Flügel in diesen fünf Jahren“, sagt Elsa Stewen, die im Plattenbau in Weißensee und später in der Villa in Niederschönhausen sehr viel mehr Alltagskontakte hatte als ihr Mann.

Ständiger Helfer für westdeutsche Häftlinge

Während Elsa Stewen mit viel Humor den komplizierten Alltag der Familie meisterte, oft mit einem alten DDR-Fahrrad unterwegs war, hatte ihr Mann Werner einen ganz anderen Einblick in die DDR: Zu seinen Aufgaben gehörte die Betreuung westdeutscher Häftlinge in DDR-Gefängnissen wie Bautzen, Hoheneck oder Rummelsburg. „Das waren in der Mehrzahl Fluchthelfer, überwiegend nicht die idealistischen, sondern kommerzielle. Kleine Fische, die für diese Arbeit angeheuert wurden und ein paar D-Mark dafür erhielten, während die Drahtzieher viel Geld verdienten und im Hintergrund blieben. Einige saßen wegen schwerer Verkehrsunfälle. Wieder andere, überwiegend alte Leute, waren vom BND angeheuert worden, um tote Briefkästen zu leeren oder Bahnhöfe zu fotografieren und waren  erwischt worden.“ Werner Stewen macht keinen Hehl daraus, wie verantwortungslos diese BND-Einsätze in seinen Augen waren.

Die Ständige Vertretung versuchte, den Häftlingen das Leben etwas zu erleichtern.  Bei den Gesprächen in den Gefängnissen saß die Stasi immer mit am Tisch. Über die Straftaten und die Strafen durfte nicht geredet werden. „Ich fragte: Weiß die Familie Bescheid? Manche baten, sich im Westen um Frau und Kind zu kümmern. Andere brauchten eine Brille oder Medikamente. Da konnten wir helfen.“ Über diese Besuche musste er Berichte an das Kanzleramt in Bonn schreiben. Zu seinen Aufgaben gehörten auch feste Sprechstunden in der Ständigen Vertretung: „Da kamen West- und Ostdeutsche. Die Westdeutschen suchten Hilfe, weil sie Geld und Papiere verloren hatten oder in einen Autounfall verwickelt waren. Bei den Ostdeutschen ging es zu 90 Prozent um Ausreisen oder Besuche im Westen, etwa wegen einer Beerdigung von Verwandten. Bonn konnte dann häufig helfen.“

Gern gesehene Gäste

Freundschaften und gute Begegnungen gab es im Laufe der Jahre erstaunlich viele. Durch Einladungen zu Günter Gaus hatten die Stewens Kontakte zu vielen Künstlern, Schriftstellern und Musikern. Die kamen auch gerne in die gastliche Villa in Niederschönhausen, denn Werner Stewen hatte eine riesige Jazzplatten-Sammlung und immer einen Whisky zu Hause.

Was der ruhige, sehr überlegte Jurist, heute 79 Jahre alt, und seine temperamentvolle, herzliche Frau zu erzählen haben, sind für die Jüngeren, egal ob aus dem Westen oder dem Osten, Geschichten aus einer anderen Welt. Dabei sind gerade erst 40 Jahre vergangen seit der Möbelwagen von Bonn nach Berlin-Weißensee fuhr.

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Renate Faerber-Husemann

(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.

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