Geschichte

Carl Credé: Wie „der rote Doktor“ gegen Paragraf 218 kämpfte

In der Weimarer Republik half er als „roter Doktor“ vor allem proletarischen Frauen, die ungewollt schwanger geworden waren. Später machte ihn sein Werk „Volk in Not“ gegen den Paragrafen 218 bekannt. Vor 145 Jahren wurde Carl Credé geboren.
von Lothar Pollähne · 7. Januar 2023
Arzt, Schriftsteller, Sozialdemokrat: Carl Credé
Arzt, Schriftsteller, Sozialdemokrat: Carl Credé

Im „Roman eines Arztes“, der 1928 unter dem Titel „Vom Corpsstudenten zum Sozialisten“ im renommierten republikanischen Verlag Carl Reißner in Dresden erschienen ist, heißt es im 75. Kapitel: „Es war im Januar 1926. Ich hatte gerade eine weite Landfahrt zu Kranken hinter mir, zum Mittagessen war keine Zeit mehr, es warteten schon viele andere Patienten auf mich. Gerade wollte ich meine Arbeit wieder beginnen, als ein Kriminalkommissar mit zahlreichen Beamten in mein Sprechzimmer eindrang, mir seine Erkennungsmarke vorhielt und mich für verhaftet erklärte.“ Genau dies ist dem Autor dieser Zeilen, dem Arzt Carl Credé in Celle widerfahren, der denunziert worden war, „verbotene Eingriffe bei Frauen gemacht zu haben“.

Im Gefängnis, weil er Frauen half

„Der rote Doktor“, wie er in seiner späteren Wahlheimat Celle genannt wird, ist ein entschiedener Gegner des Abtreibungsparagrafen 218 und behandelt vor allem proletarische Frauen, die auf den Tischen von „Engelmacher*innen“ fast verblutet wären. Credé ist neben Friedrich Wolf und Alfred Döblin einer der wenigen Ärzte, die sich öffentlich und literarisch mit den fatalen Konsequenzen des Abtreibungsverbots auseinandersetzen. Eine Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis, von denen Credé elf Monate absitzen muss, ist die Folge.

Geboren wird der „rote Doktor“ am 8. Januar 1878 in Leipzig als Carl Alexander Hoerder. Die Familie gehört zur so genannten besseren Gesellschaft. Der Vater ist Sanitätsrat, die Mutter, eine gebürtige Credé, stammt aus einer alteingesessenen hugenottischen Gelehrten-Familie. Mit dem Familienklima steht es nicht zum Besten. Die Mutter verhält sich unterwürfig, der Vater ist aufbrausend und mitunter brutal. „Widerworte“ duldet er nicht. Wenn er nicht weiter weiß, greift er zum pädagogischen Hilfsmittel jener Zeit. Mit einem fingerdicken Rohrstock prügelt er auf seine Kinder ein. Besonders hart trifft es den kleinen Carl. „Meistens war mein Körper mit blutrünstigen Schwielen bedeckt, so dass ich mich manchmal schämte, baden zu gehen“, erinnert sich Credé später.

Vom  „Hurra-Patrioten“ zum Pazifisten

Auf Veranlassung seines Großvaters wird der junge Carl „in Pension gegeben“ und auf das Pädagogium der Herrnhuter Bruderschaft  nach Niesky in der Oberlausitz geschickt. Im Alter von 17 Jahren wird Carl auf das Klostergymnasium der Herrnhuter in Bad Hersfeld empfohlen, wo Konrad Duden als Direktor wirkt. Das, so hofft der Vater, möge den „verlotterten Großstadtjungen“ bändigen. 1898 besteht Carl Alexander Hoerder in Bad Hersfeld seine Abiturprüfung. Ab 1899 studiert er in Leipzig, Berlin und schließlich in Halle Medizin. 1906 besteht er in Halle „mit Ach und Krach“ sein medizinisches Staatsexamen. Im Jahr darauf wird er mit einer Arbeit über Tuberkulose-Erkrankungen promoviert.

Seine erste richtige Stelle tritt Carl Hoerder als Volontärassistent an der ersten Frauenklinik der Welt in Berlin an. 1910 heiratet er Gertrud Neumann, die mit dieser Heirat vom Judentum zum Christentum konvertiert. Der Beginn des Krieges zeigt Carl Hoerder als begeisterten „Hurra-Patrioten“. Für einen „Vivat-Band“ dichtet er, dem Kaiser zugeneigt: „Du wolltest den Frieden, man zwang Dich zum Kriege. Jetzt schenkt Dir der Herrgott die herrlichsten Siege. ‚Gott schütze unseren Kaiser‘. Was viele erstrebten, Dir ist es gelungen. Du hast der Parteien Zwietracht bezwungen. Der Kaiser rief und alle alle kamen. Vivat!“

Wegen eines Herzleidens ist Carl Hoerder nicht frontdiensttauglich. Aber als Arzt hinter den Linien bekommt er jeden Tag die Versehrten von der Front auf die Operationstische geliefert. Das macht ihn mürbe und skeptisch. Wenige Tage vor Kriegsende notiert er in Belgien. „War die ganzen Jahre hindurch meine ärztliche Seele standhaft geblieben, jetzt brach sie unter der Überfülle menschlicher Leiden, die ich immer wieder sehen musste, zusammen. In diesen Tagen bin ich zum überzeugten Pazifisten geworden“.

Von der DDP zur SPD

Die Heimreise ins versehrte Deutschland führt ihn über Hannover nach Celle, wo er schon 1917 kurzzeitig gedient hatte, und er gerät in die Wirren der Revolution, die in der Beamten- und Juristenstadt eher verhalten ausfallen. Carl Hoerder, der inzwischen zusätzlich den Mädchennamen seiner Mutter Credé angenommen hat, positioniert sich und redet als Bürgerlicher auf einer kommunistischen Massenveranstaltung. Sozialdemokraten treten an ihn heran und wollen ihn zum Eintritt in die Partei bewegen.

Credé-Hoerder jedoch, obwohl mit dem Herzen bereits Sozialist, zögert und schließt sich der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) an. Von 1919 bis 1924 sitzt er für die DDP in der Stadtverordnetenversammlung von Celle — bis er seine „leisetreterischen Parteigenossen“ nicht mehr ertragen kann. Er tritt aus der DDP aus und zieht sich für eine Weile aus der Kommunalpolitik zurück. 1926 oder 1927 wird er endlich Mitglied der SPD und engagiert sich im Reichsbanner „Schwarz-Rot-Gold“.

Zweite Karriere als Schriftsteller

Nach seiner Verurteilung wegen „verbotener Eingriffe bei Frauen“ findet Carl Credé-Hoerder im Gefängnis die Zeit, um seine literarischen Interessen zu pflegen. 1919 hatte er, noch unter dem Eindruck des Krieges, zwei weitgehend unbeachtete „Zukunftsromane“ geschrieben; in der Haft beschäftigt er sich mit seiner eigenen Situation als Gefangener und als Arzt. Er schreibt das „A-B-C des Angeklagten“, das Kurt Tucholsky mit den Worten „Bravo! Aber das ist ja meisterhaft!“ rezensiert, und er verfasst das Werk, das ihn bald über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt macht: „Volk in Not“, eine Anklageschrift gegen den Paragrafen 218, die 1927 mit Illustrationen von Käthe Kollwitz erscheint. Unter dem Titel „Gequälte Menschen“ bringt Erwin Piscator den Text auf die Bühne und macht Carl Credé-Hoerder in der Spielzeit 1929/30 zum meistgespielten Autor auf deutschen Bühnen.

Mit der Machtübertragung an die Nazis verliert Credé-Hoerder seine gesamte berufliche Existenz. Die Zulassung als Arzt wird ihm entzogen, seine Stücke nicht mehr inszeniert, und seine Bücher werden verbrannt. Mit seiner Frau zieht er sich, auch zu deren Schutz, auf die Insel Rügen zurück. Dort steht er zwar unter der Kontrolle der Gestapo, aber ein Jugendfreund, ein gehobener Nazi, hält schützend die Hand über das Ehepaar.

Über Hamburg gelangt er noch zu Kriegszeiten nach Celle zurück und hält sich dort verborgen; seine Frau bleibt bis zum Kriegsende auf Rügen. Noch einmal wird Carl Credé-Hoerder aktiv und engagiert sich für die Bestrafung der Täter der Novemberpogrome von 1938. Vergeblich! Der Celler Oberbürgermeister ist ein alter Nazi und bleibt untätig. Carl Credé-Hoerder stirbt am 27. Dezember 1952 an den Folgen seiner langjährigen Herzkrankheit.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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